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Wozu und wie Priester?
Zukunftsfähige Kirche im Blick
Vergebliches Ackern oder reiche Frucht?
Ermutigende Worte des Bischofs von Magdeburg
Worum wir bitten sollen
Zumutungen und Erwartungen
Chrisam-Messe
Dennoch verbunden
„Wes Geistes Kind wir sind“
Vom Nischendasein zur schöpferischen Minderheit
Zwischen Verheißung und Erfüllung
System- oder Lebensrelevanz?
„Selbstkritik ist kein Thema“
Weder Hochleistungsfest noch Heldengedenken
„Fürchtet euch nicht!“
„Wir lassen bei der Abendmahlsfrage nicht locker“
Von der Vision Karls des Großen und heutigen Herausforderungen
Erfahrungen mit Religiösen Kinderwochen (RKW)
Von Leben und Tod
Wo ist das Galiläa von heute?
„Bei Gott bist du groß“
Diaspora-Jahrheft 2021
Wegbereiter, nicht Nachlassverwalter
„Krisen“
„Bin unsicher, ob von diesem ÖKT große Strahlkraft ausgehen wird.“
Mit Dank und viel Respekt
Wahlnachruf
„Gottes Bodenpersonal: Feige über Mut“
„Die letzten 24 Stunden“

INHALTSVERZEICHNIS Wozu und wie Priester? Predigt zur Priesterweihe von Dr. Jürgen Wolff am 11. Juli 2020 Zukunftsfähige Kirche im Blick Interview von Eckhard Pohl über Personalveränderungen, regionalen Einsatz und andere Entscheidungen, Tag des Herrn vom 12. Juli 2020 Vergebliches Ackern oder reiche Frucht? Predigt zur Verabschiedung der Franziskaner von Halberstadt am 12. Juli 2020 Ermutigende Worte des Bischofs von Magdeburg anlässlich der Instruktion der Kongregation für den Klerus vom 20. Juli 2020 Worum wir bitten sollen Predigt am 26. Juli 2020 in St. Norbert, Magdeburg Zumutungen und Erwartungen Predigt zur Einführung des Kathedralpfarrers Daniel Rudloff am 30. August 2020 in St. Sebastian Chrisam-Messe Corona-bedingt nachgeholt am 5. September 2020 Dennoch verbunden Brief des Bischofs von Magdeburg zum 6. September 2020 anlässlich der abgesagten Bistumswallfahrt „Wes Geistes Kind wir sind“ Firmpredigt 2020 Vom Nischendasein zur schöpferischen Minderheit KNA-Interview von Gregor Krumpholz und Karin Wollschläger zu 30 Jahre Deutsche Einheit vom 18. September 2020 Zwischen Verheißung und Erfüllung Predigt zum Ökumenischer Bittgottesdienst in Marienborn am 3. Oktober 2020 4 11 15 20 25 28 33 37 41 46 51 55

System- oder Lebensrelevanz? Predigt beim Pastoraltag am 14. Oktober 2020 „Selbstkritik ist kein Thema“ KNA-Interview von Norbert Zonker vom 27. Oktober 2020 zum Konflikt um das Votum „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ des Ökumenischen Arbeitskreises (ÖAK) Weder Hochleistungsfest noch Heldengedenken Predigt zum Hochfest Allerheiligen 2020 für die Eucharistiefeier mit dem Deutschlandfunk „Fürchtet euch nicht!“ Predigt zur Christnacht 2020 „Wir lassen bei der Abendmahlsfrage nicht locker“ Interview von Susanna Haverkamp für die Zeitungen der Verlagsgruppe Kirchenpresse vom 10. Januar 2021 Von der Vision Karls des Großen und heutigen Herausforderungen Predigt beim „Karlsamt“ am 30. Januar 2021 im Kaiserdom St. Bartholomäus in Frankfurt am Main Erfahrungen mit Religiösen Kinderwochen (RKW) Grußwort zum digitalen RKW-Fachtag des Bonifatiuswerkes der deutschen Katholiken am 8. Februar 2021 Von Leben und Tod Brief des Bischofs von Magdeburg zur österlichen Bußzeit 2021 Wo ist das Galiläa von heute? Predigt am Ostersonntag 2021 „Bei Gott bist du groß“ Interview des Bonifatiuswerkes der deutschen Katholiken zur Erstkommunionaktion 2021 Diaspora-Jahrheft 2021 Interview des Bonifatiuswerkes der deutschen Katholiken 59 63 67 70 73 79 84 89 93 97 100 5

Wegbereiter, nicht Nachlassverwalter Predigt zum 65-jährigen Priesterjubiläum von Bischof Leo Nowak und Domkapitular Willi Kraning an Christi Himmelfahrt 2021 „Krisen“ Begleittext im Bildband #Behindthemask aus dem Verlag Frederking & Thaler, Autor Björn Eenboom, Fotograf Marcel Gregory Stock im April 2021 „Bin unsicher, ob von diesem ÖKT große Strahlkraft ausgehen wird.“ Interview von Steffen Zimmermann für katholisch.de vom 17. Mai 2021 Mit Dank und viel Respekt Erinnerungen aufgeschrieben von Eckhard Pohl für den Tag des Herrn am 6. Juni 2021 Wahlnachruf Anmerkungen zum Ausgang der Landtagswahl 2021 in Sachsen-Anhalt „Gottes Bodenpersonal: Feige über Mut“ Kolumnen in Christ & Welt sowie ZEIT ONLINE „Die letzten 24 Stunden“ aufgezeichnet von B. Eenboom, in der Rubrik „Salon“ im Cicero. Magazin für politische Kultur vom Juni 2021 104 108 110 114 117 120 132 6

Impressum Herausgegeber: Bischöfliches Ordinariat Magdeburg Max-Josef-Metzger-Straße 1, 39104 Magdeburg bistum-magdeburg.de Redaktion und Gestaltung: Susanne Sperling | Umschlaggestaltung: Ronald Reinicke Titelfoto: Pixabay Fotos: AJP (46, 50), kna (26, 52,52 63, 64), katholisch.de (110), Tag des Herrn (15), pfarrbriefser- vice.de (113), Gerhard Feige (69, 71), Fotoalbum Familie Feige (86, 99, 114), Fotoalbum Familie Nowak (99), Christ&Welt (10,122,125,127,129,131), pixabay (90), Pressestelle Bistum Magdeburg (7, 10, 13, 19, 21,24, 32, 35, 37, 39, 41, 42, 45,48, 61, 81, 83, 85, 95, 96, 104, 107, 108, 108, 117, 118,122), Bonifatiuswerk (101, 104), St. Elisabeth und St. Barbara Krankenhaus (116), Viktoria Kühne (74, 77, 80), KHM Charlen Christoph (29, 31), Herbert Spies (56, 58), Marcel Gregory Stock (109), Maurice Weiss (134, Umschlagrückseite) 8

Kontinuum im Wandel Ein ver-rücktes Jahr liegt hinter uns! Dies wurde mir bei der Zusammen- stellung der neuen Broschüre von unserem Bischof Dr. Gerhard Feige wieder einmal deutlich. Auch wenn manches aus den Angeln gehoben, in neue „digitale Räume“ verlegt oder uns an die Grenze des Zumutba- ren gerückt hat, so gab es doch die Beruhigung durch etwas Zusam- menhängendes: dieses Kontinuum, diese unzerstörbare Oase, die wie ein Klangteppich den Raum zum Schwingen und die Zeit zum Stillstand bringen kann, dieser unveränderbare Kern, der durch Zeit und Raum gewandelt uns trägt. Anders als in den Jahren zuvor beginnen die Ansprachen und anderen Texte 2021 nicht mit dem Rückblick auf die Bistumswallfahrt, die 2020 pandemiebedingt ausfallen musste. Stattdessen schauen wir auf die Priesterweihe von Dr. Jürgen Wolff. In der Nachfolge Jesu, der Kontinu- ität seines eigenen Lebens und der bischöflichen Frage „Wozu und wie Priester?“ wird ein Kontinuum im Wandel erfahrbar. Auf den nachfolgenden Seiten finden sich die Themen des vergangenen Jahres, darunter Fragen der Ökumene, Diskussionen um die Antwort der Kleruskongregation auf einen Zweifel, Gedanken zu bundesverfassungs- gerichtlichen Entscheidungen und zum Ausgang der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt sowie Dankesworte zu den Abschieden der Franziskaner aus Halberstadt und der Elisabeth-Schwestern aus Halle (Saale). Den Abschluss der Broschüre bilden die lesenswerten Kolumnen des Bischofs aus Christ&Welt und der Essay aus dem Magazin für politische Kultur „Cicero“ mit dem Gedankenspiel, wie die letzten 24 Stunden eines Lebens aussehen könnten. Wandeln Sie mit durch Zeit und Raum und vor allen Dingen, genießen Sie die Lektüre. Ihre Susanne Sperling Pressesprecherin Bistum Magdeburg 9

Wozu und wie Priester? Predigt zur Priesterweihe von Dr. Jürgen Wolff am 11. Juli 2020 „Ich werde sie verlocken…“ Lieber Herr Dr. Wolff, liebe Schwestern und Brüder, es ist schon eine bewegte Zeit, in der wir leben, alles andere als nur irgendwie normal, auf jeden Fall mit ungewöhnlichen Zumutungen und Herausforderungen: weltanschaulich und gesellschaftlich, politisch und kirchlich, und nunmehr auch noch durch die Corona-Pandemie verstärkt. Solche belastenden Erfahrungen verunsichern, lassen Fragen aufkommen und stimmen traurig; sie könnten aber auch – gerade angesichts unserer heutigen Feier – dazu anregen, wieder einmal tiefer darüber nachzudenken, wozu es uns als Kirche überhaupt gibt und welche Rolle in ihr dabei weiterhin oder künftig Priestern zukommt. Innerkirchlich schlagen Priestern derzeit ganz unterschiedliche Erwartungen entgegen: Manche Gläubige sehen in ihnen „sakral legitimierte Heilsvermittler“, andere schreiben ihnen Manager-Aufgaben zu oder halten sie für Systemwächter, Brauchtumspfleger beziehungs- weise Verhaltenskontrolleure. Vor allem aber sollen sie Seelsorger sein und bleiben. Andererseits haben sie längst ihren Status als Autorität eingebüßt und an Macht verloren. Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung haben mit dazu beigetragen, besonders aber auch der Glaubwürdigkeitsverlust durch die Verbrechen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger oder andere Grenzüberschreitungen und Skandale. Zudem hat der dramatische Rückgang an Berufungen sie noch mehr zu Exoten gemacht, als sie es vorher schon waren. „Kein kirchlicher Berufsstand muss sich daher gegenwärtig derart neu erfinden wie“ die Priester. Lieber Herr Dr. Wolff, diese kirchliche und gesellschaftliche Gemenge- lage hat Sie als lebenserfahrener und vernünftig denkender Mensch keineswegs abgeschreckt, einen solchen Beruf ernsthaft in Erwägung zu ziehen und noch einmal ein intensives Studium und eine mühevolle Ausbildung auf sich zu nehmen! Sie haben sich vielmehr von Gott dazu verlocken lassen, sich – wie der Prophet Hosea schreibt (vgl. 2,16.21-22) 11

– fest an ihn zu binden, und das sehr konkret in dieser Kirche und für diese Kirche, im Bistum Magdeburg mit seinen ostdeutschen Verhältnis- sen. „Hier bin ich!“ Mit diesem Bekenntnis haben Sie vor mir als Ihrem Bischof und vor der ganzen versammelten Gemeinde ihre Bereitschaft erklärt, das Sakrament der Priesterweihe zu empfangen. „Diene ich aus der Kraft, die Gott verleiht?“ Was kann nun heutzutage in einer Zeit, in der „die Selbst- wie Fremd- wahrnehmung der Priester … vielfach unsicher und undeutlich gewor- den“ sind, die Identität eines Priesters ausmachen? Sakramentalität ist dafür ein Schlüsselwort. In der Nachfolge Jesu Christi erscheint die Kirche als Zeichen und Werkzeug dafür, „dass Gott sich den Menschen unwiderruflich … zuwendet“ . Das hat sie zum Ausdruck zu bringen und zu vermitteln. Dabei spielt ihr priesterliches Dienstamt eine besondere Rolle. Es vergegenwärtigt – so das katholische Verständnis – Wort und Wirken Jesu Christi selbst und steht somit nicht nur mitten in der Kirche, sondern auch den übrigen Gläubigen gegenüber. Damit ist jedoch nicht Abgrenzung, Steigerung des gemeinsamen Priestertums oder Herrschaft über die anderen gemeint. Vielmehr will die Weihe zum Ausdruck bringen, dass da jemand weder uns noch sich mehr gehört, sondern qualitativ neu gesendet und bevollmächtigt ist, im Namen eines anderen zu handeln. Dazu sind auch nicht die Qualitäten der eigenen Person entscheidend – Leistung, Tüchtigkeit und Ausstrahlung –, sondern die gnadenvolle Befähigung, transparent zu sein, Jesus Christus durch sich wirken zu lassen und auf ihn zu verweisen. Für möglichst viele Menschen inner- wie außerhalb von Kirche soll da- durch so konkret wie möglich werden: Du bist angenommen und geliebt, hast eine unveräußerliche Würde und kannst auf eine ewige Zukunft hoffen. Sehnen sich nicht fast alle danach, Beachtung und Orientierung zu finden? Darum geht es also, wenn wir von der Berufung des Priesters sprechen. Zugleich hat das Vertrauen zahlreicher Menschen in die Kirche sehr ge- litten. Der Verdacht besteht, „die Kirche diene nur ihrem eigenen Vorteil und der Sicherung ihrer Macht“ . Deshalb ist es umso wichtiger, dass ein Priester sich selbst immer wieder prüft: Stehe ich wirklich für diesen 12

Jesus Christus, der gekommen ist, um zu dienen? Rede ich mit den Wor- ten, die Gott mir gibt, und diene ich aus der Kraft, die Gott verleiht (vgl. 1 Petr 4,11-12)? Und bin ich bereit, mich selbst aus der Hand zu geben? Mehr denn je ist heute darüber hinaus – auch von Priestern – die Be- reitschaft gefragt, sich auf neue Wege einzulassen, die sich erst in Um- rissen abzeichnen. Wie wird Leitung in unserem Bistum künftig buch- stabiert werden müssen? Wie wird das Miteinander aller Getauften in ihren verschiedenen Berufungen gestaltet? Wohin wird sich die Rolle des Priesters weiter entwickeln? Und wie wird Kirche demnächst insge- samt in Erscheinung treten und ihrer Sendung gerecht werden können? „Ich habe euch Freunde genannt…“ Gott – so wage ich anzunehmen – wird sich schon etwas dabei gedacht haben, uns eine solche Situation, wie wir sie erleben, zuzumuten. Da- bei sollte uns bewusst sein: Jede Zeit ist Bewährungszeit, jede Zeit ist aber auch Heilszeit. Auch heute ist Jesus Christus bei uns und erwartet von seiner Kirche, Menschen die heilende und befreiende Zusage seines Evangeliums zu vermitteln. Und nach wie vor gilt, dass der Priester mit seiner Existenz besonders dafür einstehen soll. Dr. Jürgen Wolff wird am 11. Juli 2020 von Bischof Dr. Gerhard Feige zum Priester geweiht 13

Wer aber eine solche Botschaft ausrufen darf, kann nur ganz demütig und bescheiden werden. Ihm muss bewusst sein und bleiben, dass er zutiefst Dienender ist und sowohl die Größe wie Tiefe dieser Botschaft als auch seine eigene menschliche Unzulänglichkeit nur ertragen kann, wenn er in lebendiger Verbindung mit dem bleibt, der ihn gerufen hat. Er darf sich als der Jünger sehen, den Jesus – wie es im heutigen Evange- lium heißt – seinen Freund nennt. „Priestersein und Christsein ganz all- gemein lassen sich nur aus der persönlichen, gelebten und immer wieder erneuerten und vertieften Freundschaft mit Jesus Christus verstehen, leben und bezeugen.“ Derart verwurzelt und geborgen muss ein Priester nicht alles alleine schaffen oder perfekt sein. Er darf auch Zweifel und Fragen haben. In dem Maße, in dem er aber immer wieder seine Zuflucht bei Jesus Christus sucht, werden ihn die Spannungen, die Erwartungen und die vielen Unsicherheiten nicht erdrücken und lähmen. Er wird viel- mehr die Kraft erhalten, bei den Menschen auf ihren verschlungenen Wegen zu sein und sie zu begleiten. Lieber Herr Dr. Wolff, in diesem Sinne möchte ich ihnen das Gebet eines Priesters und Dogmatikprofessors mit auf den Weg geben, in dem all das zum Ausdruck kommt: „Herr Jesus Christus, ich weiß, dass nicht wichtig ist, ob ich ankomme, ob ich gelobt werde, ob ich Erfolg und Anerkennung ernte; ich weiß, dass nur eines wichtig ist: dass ich dir nicht im Wege stehe, dass ich dein Werkzeug bin, dass ich die Menschen nicht zu mir, sondern zu dir führe. Herr Jesus Christus, bewahre mich vor dem Wahn, ich selbst müsste die Welt retten. Lass mich nie vergessen, dass du sie schon ge- rettet hast; und dass ich nicht am Ende bin, wenn meine Kräfte mir den Dienst versagen. Ich bin das Fenster, du das Licht. Du kannst durch mich hindurch, was ich nicht kann. Du fädelst dich ein in diese Welt durch mich armseliges dünnes Nadelöhr hindurch. Das macht mich frei von der Last, etwas bewirken zu müssen, was meine Kraft übersteigt. Das macht mir Mut zu der Vollmacht, die du in mich, in meine Schwäche und Armseligkeit gelegt hast. Ja, du in mir! So froh, so unverkrampft und echt wird mein Leben, wenn ich mich entschieden habe zu dir in mir.“ Und so wünsche ich Ihnen, lieber Herr Dr. Wolff, dass Sie in der Liebe Jesu Christi bleiben, sich in ihr geborgen wissen und immer wieder ihre heilsame Kraft erfahren. Möge Christus Sie segnen und zum Segen für viele werden lassen. 14

Zukunftsfähige Kirche im Blick Interview von Eckhard Pohl über Personalveränderungen, regionalen Einsatz und andere Entscheidungen, Tag des Herrn vom 12. Juli 2020 Derzeit sind zahlreiche Möbelwagen im Bistum Magdeburg unterwegs. Priester und Gemeindereferentinnen und -referenten etlicher Pfarreien wechseln zum Beginn des neuen Schuljahres ihre seelsorglichen Ein- satzorte. TdH: Herr Bischof, dem Vernehmen nach und dem Amtsblatt zufolge stehen im Bistum umfassende Versetzungen Hauptamtlicher in der Seelsorge an. In welchem Umfang passiert dies, warum und warum gerade jetzt? Feige: Tatsächlich sind nach langer Zeit wieder einmal umfangreiche Ver- setzungen im Gange. Das betrifft etwa 15 Priester, ähnlich viele Gemeindere- ferentinnen und -referenten und einen Diakon. Wir haben uns lange Gedanken gemacht, Vorstellungen entwickelt und eine Menge Gespräche geführt – und das nicht aus Jux und Tollerei. Entschei- dende Auslöser für unsere Überlegun- gen und Planungen waren der unerwartete Tod eines Pfarrers sowie der krankheits- oder ruhestandsbedingte Rückzug einiger anderer Seel- sorger und Seelsorgerinnen. Das ist bei unseren knappen personellen Ressourcen mit ca. 50 Welt- und 10 Ordenspriestern, 12 Diakonen und 50 Gemeindereferenten im aktiven Dienst schon erheblich. Hinzu kom- men Wünsche von Hauptamtlichen, ihre Stellen auch wieder einmal zu wechseln. Und das tut ihnen selbst wie auch den Gemeinden von Zeit zu Zeit gut. Außerdem haben wir zwei „Neuzugänge“, eine erst kürz- lich beauftragte Gemeindereferentin und ab 11. Juli einen Neupriester. Schließlich kommt auch noch eine Gemeindereferentin aus ihrem Aus- landseinsatz zurück. Eckhard Pohl, Tag des Herrn 15

TdH: Basis für die Entscheidungen, wer welche Aufgaben übernimmt, sind sicher nicht zuletzt auch die „Zukunftsbilder Bistum Magdeburg“? Feige: Zweifellos! Darüber hinaus hat unsere siebenköpfige Personal- kommission aber auch noch andere Aspekte zu berücksichtigen. Es fehlt uns ja nicht nur an Priestern, sondern auch an Gemeindereferentinnen und -referenten. In etlichen Gemeinden ist inzwischen das Bewusst- sein dafür gewachsen, dass nicht mehr alle einen eigenen Pfarrer haben können und sich Gemeindemitglieder zusammen mit einem Priester als geistlichem Moderator in die Pfarreileitung einbringen müssen. Hinzu kommt: Nicht jeder Priester kann eine große Pfarrei oder als Administra- tor zusätzlich eine weitere Pfarrei leiten. Außerdem: Wir hatten mal das Ziel, pro 1000 Katholiken mindestens einen Hauptamtlichen einzuset- zen. Inzwischen mussten wir uns von dieser Vorstellung verabschieden, weil gar nicht mehr so viele zur Verfügung stehen. TdH: Ist auch die weitere Zusammenlegung von Pfarreien anvisiert? Feige: Wir haben uns 2010 für 44 Pfarreien im Bistum entschieden. Das soll erst einmal so bestehen bleiben, auch wenn wir heutigen Einschät- zungen zufolge 2030 nur noch etwa 20 Priester im aktiven Dienst haben werden. Beabsichtigt ist aber, zunehmend jeweils mehrere Pfarreien als Seelsorge-Regionen zu verstehen. Die Hauptamtlichen sollen dann nicht mehr nur in einer Pfarrei, sondern regional zum Einsatz kommen. Eine solche Region werden zum Beispiel die Pfarreien Eisleben, Hettstedt, Querfurt und Sangerhausen bilden. Was das für die Dekanate bedeutet, wird derzeit beraten. TdH: Nach den „Zukunftsbildern Bistum Magdeburg“ soll die kollegiale Verantwortung in der Pfarreileitung an Bedeutung gewinnen. Haupt- amtliche sollen vor allem Seelsorger sein. Wo entstehen neben den Pfar- reien Bad Liebenwerda und Hettstedt weitere Pfarreileitungsteams? Feige: Weitere Leitungsteams mit einem Priester als Moderator sind in den Pfarreien Huysburg, Halle-Süd, Sangerhausen und Burg im Aufbau. Ziel ist, die Teams noch in diesem Jahr einzusetzen. Der Termin ist al- lerdings von den wegen der Corona-Krise auf den 7./8. November ver- schobenen Pfarrgemeinderats- und Kirchenvorstandswahlen abhängig. Bei der Orientierung auf Pfarreileitungsteams steht für uns die Frage 16

nach einer zukunftsfähigen Gestalt von Kirche im Mittelpunkt, die auf- grund der Taufwürde jedes Christen von vielen mitgetragen wird und sich weg von einer versorgten hin zu einer mitsorgenden Gemeinde ent- wickelt. Wir haben uns dabei stark an den Erfahrungen der Ortskirche des französischen Bistums Châlons orientiert und diese auf unsere ver- gleichsweise ähnlich stark von der Entchristlichung betroffene Region adaptiert. Dort werden schon viele Jahre Pfarreien gemäß Canon 517 Paragraph 2 des Kirchenrechts von sogenannten Equipes pastorales ge- leitet. TdH: Werden die Pfarreien mittelfristig genügend Mitglieder haben, um die notwendigen Ehrenamtlichen zu finden, die sich in den Gremien und Pfarreileitungsteams engagieren? Feige: In der Tat ist dies eine wichtige Frage, und wir müssen sehr sorg- sam darauf achten. dass Ehrenamtliche in einer solchen Verantwortung nicht überfordert werden. Darum gilt es sehr genau hinzuschauen und gemeinsam zu beraten, was unter den gegebenen Bedingungen möglich ist und auch Freude macht. 17

TdH: In etlichen anderen deutschen Bistümern leiten ausländische Priester Pfarreien, warum nicht im Bistum Magdeburg? Feige: Abgesehen von Ausnahmen tun sich viele Priester aus dem Aus- land mit den komplexen kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnis- sen in Deutschland sehr schwer, da sie von anderen Mentalitäten und Erfahrungen geprägt sind. Zudem ist nicht selten auch die Sprache ein bleibendes Problem. Unsere ostdeutsche Situation wäre dabei noch ein- mal eine ganz besondere Herausforderung, wie sie selbst manche Ein- heimischen nicht verstehen. TdH: Derzeit werden einige Pfarreien im Bistum von einem Nach- barpfarrer mitverwaltet? Wird das einstweilen so bleiben? Feige: Beispiele dafür sind zurzeit Salzwedel und Gardelegen, Weißen- fels und Naumburg, Quedlinburg und Wernigerode oder die Kathedral- pfarrei und St. Maria in Magdeburg. Jeder Fall ist da einzeln zu betrach- ten. Mancherorts wird oder soll es nur eine Übergangslösung sein. TdH: Welche Bedeutung kommt dem ökumenischen Miteinander von Gemeinden zu? Feige: Viel ist da schon gewachsen. Meistens hängt das von konkreten Personen und Umständen ab. Wo man etwa in der Kirchenmusik, im sozialen Engagement, bei Festen im öffentlichen Raum oder ähnlichem zusammenarbeitet, sollte dies unbedingt weiter gepflegt werden. Eben- so gilt das für gemeinsame Gottesdienste zu bestimmten Anlässen oder andere Formen der geistlichen Ökumene. Gerade in unserer Region wird das immer wichtiger. TdH: In den Pfarreien der Stadt Halle und in Dessau wird derzeit der Einsatz von Verwaltungskoordinatoren erprobt. Sollen künftig entspre- chende Mitarbeiter in vielen Pfarreien zur Entlastung der Seelsorger zum Einsatz kommen? Feige: Beim Einsatz der Verwaltungskoordinatoren handelt es sich um Pilotprojekte. Die Region im Mansfelder Land kommt da noch hinzu. Damit wollen wir in einer Großstadt, einer Stadt mittlerer Größe und in einem eher ländlichen Raum den Einsatz von Verwaltungsmitarbeitern 18

in den Pfarreien erproben. Sollte dies erfolgreich verlaufen, ist an den Einsatz solcher Mitarbeiter auch in den künftigen Regionen gedacht. TdH: Eine letzte Frage: Was lässt sich vielleicht bereits jetzt aus den pastoralen Erfahrungen mit der Corona-Pandemie lernen? Feige: Mich hat in der schwierigen Situation ohne Gemeindegottes- dienste und andere Zusammenkünfte beeindruckt, dass Christen auf einmal auch anderweitig recht lebendig werden können: kreative For- men des miteinander Betens über die sozialen Kommunikationsmittel zu entwickeln, Hilfsbedürftigen trotz Abstands beizustehen oder Kirchen zur Besinnung offenzuhalten. Sicher müssten wir – so eine Erkenntnis – mit dem Evangelium noch mehr digital unterwegs sein. Zudem gilt es, die „Hauskirche“ zu entwickeln und die Gläubigen dabei zu unter- stützen, in zunehmender Selbstverantwortung ihr Christsein zu leben. Kirche ist jedenfalls nicht nur die Eucharistiefeier und ein vertrautes Vereinsleben. Viele Hochfeste wurden während der Corona-Pandemie via Lifestream übertragen. Aber auch Ansprachen, Gruppentreffen und sogar das Bibel teilen wurden digital organisiert. 19

Vergebliches Ackern oder reiche Frucht? Predigt zur Verabschiedung der Franziskaner von Halberstadt am 12. Juli 2020 In Messbüchern, Lektionaren und Benediktionalien gibt es Texte für hoffnungsvolle Anfänge, bedeutsame Jubiläen und erfolgreiche Ab- schlüsse – aber nicht zur Verabschiedung von Ordensleuten, schon gar nicht von einer Gemeinschaft, die sich schon seit fast 800 Jahren an diesem Ort befindet. Doch aus einem solchen Grund haben wir uns hier versammelt: Die letz- ten drei Franziskaner verlassen Halberstadt. Was für ein Einschnitt! Noch zu Lebzeiten des heiligen Franziskus sind die ersten Brüder hierherge- kommen und haben bald ein Kloster und eine Kirche errichtet. Selbst während und nach der Reformation blieb es erhalten, als einziges Klos- ter der sächsischen Provinz. Am Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Franziskaner infolge der Säkularisation zwar zwischenzeitlich aus Halberstadt vertrieben, kehrten 1920 dann aber doch wieder an diesen Ort zurück. Seitdem haben sich die Brüder in verschiedenen Bereichen engagiert: in der Pfarrei und darüber hinaus, für Obdachlose und andere Bedürftige, in der Gefängnisseelsorge und in der Exerzitienarbeit. Nun aber lässt die aktuelle Entwicklung dem Orden keine Wahl, als sich von mehreren Standorten in Deutschland zu trennen. „Wir sind die drei Letzten der Mohikaner“, so haben Sie, lieber Pater Ubald, lieber Bruder Michael und lieber Pater Alfons es neulich im Interview formuliert. Die lange Tradition franziskanischen Lebens in Halberstadt geht mit Ihrem Umzug zu Ende. Dieser Abschied hat etwas mit unserer menschlichen Grundsituation zu tun. Sie lässt sich mit einem Wort des Apostels Paulus aus dem 1. Ko- rintherbrief (7,31) so charakterisieren: „Die Gestalt dieser Welt vergeht.“ Das bedeutet, wir alle sind der Vergänglichkeit unterworfen. Auch die Kirche – und damit auch die Ordensgemeinschaften – sind darin einbe- zogen. Treffend formuliert dazu das Zweite Vatikanische Konzil: Die pil- gernde Kirche „trägt in ihren Sakramenten und Einrichtungen, die noch zu dieser Weltzeit gehören, die Gestalt dieser Welt, die vergeht, und 20

zählt so selbst zu der Schöpfung, die bis jetzt noch seufzt und in Wehen liegt und die Offenbarung der Kinder Gottes erwartet“ (LG 48). Die Kirche ist also nicht mit dem Reich Gottes identisch, steht aber in dessen Dienst. Sie bezieht ihre Kraft aus dem neuen Leben, das in der Aufweckung Jesu seinen Anfang genommen hat – und sie bezeugt und vermittelt dieses Leben. Aber dies geschieht immer in einer Gestalt, die vorläufig, verborgen und auch gebrochen sein kann. Das heißt, in jeder Zeit ist danach zu fragen, ob der Kirche – und damit auch den Orden – Formen, Strukturen und Verhaltensweisen geschichtlich zugewachsen sind, die zu ihrer Zeit notwendig und zukunftsweisend waren, die aber unter anderen Bedingungen nicht mehr möglich sind. „Die Gestalt dieser Welt vergeht“. Darin liegt eine bleibende Herausfor- derung an uns alle. Heute erleben wir sie hier in Halberstadt ganz kon- kret. Viele Erinnerungen kommen auf, aber auch Trauer und Wehmut. Eine große Lücke wird bleiben. Ja, der Abschied ist schmerzlich: für Sie, liebe Brüder vom heiligen Franziskus, und vor allem auch für die vielen Menschen, für die Sie da waren, in der Pfarrei und weit darüber hinaus. Unermüdlich haben Sie – wie der Sämann im Gleichnis – den Samen ausgesät. Die Franziskaner-Brüder beim Abschiedsgottesdienst in Halberstadt 21

Wie erfolgreich war alles? Im Gleichnis spricht Jesus davon, dass drei Viertel des Samens keine Frucht bringen. Die Vögel picken die Körner weg; der felsige Boden lässt die Samen verdorren, und die Dornen ersticken sie. Nur ein Viertel wächst und reift. Nüchtern betrachtet könnte man sagen: Viele Mühen scheinen umsonst oder vergeblich gewesen zu sein. Und am heutigen Tag kommt dazu noch die Frage auf: Was bleibt von dem Samen, den Sie ausgesät haben? Wie wird sich Ihr franziskanisches Charisma weiter auswirken, wenn Sie nicht mehr da sind? Sie, lieber Pater Ubald, Pater Alfons und Bruder Michael, haben in all den Jahren darauf gesetzt, dass der Samen, den Sie hier aussäen, in irgendeiner Weise Frucht bringen wird – auch wenn Sie diese Frucht nie kontrollieren konnten, sie nicht immer sofort schon gesehen haben und vor allem nun auch alles aus der Hand geben müssen. Ohne einen tiefen Glauben ist das wohl kaum möglich, hätten Sie das nicht durchhalten können. Sie aber haben darauf vertraut, dass das Wort Gottes, das aus- gesät wird, in irgendeiner Weise bewirkt, was Gott – wie wir es in der Lesung aus dem Buch Jesaja gehört haben (Jes 55,11) – damit vorhat. Darauf läuft auch das hinaus, was Jesus uns mit dem Gleichnis vom Sämann sagen will. Er weiß, dass vieles von dem, was wir als Christen aussäen, verloren geht; dass viele das Wort Gottes nur halbherzig oder gar nicht aufnehmen. Das hat er selbst ja am eigenen Leib erlebt. Und doch verschwendet er sich ganz bei jeder Gelegenheit. Denn er blickt nicht auf die drei Viertel der Samen, die verloren gehen. Er blickt vielmehr auf die reiche Ernte. Damit lenkt er unseren Blick auf die unerschöpfliche Großzügigkeit Gottes, bei dem nichts unmöglich ist. Am Ende spricht das Gleichnis ja auch vom Gewinn. Und dieser ist dann unermesslich; das Evangelium spricht von hundertfach, sechzig- fach, dreißigfach. In der Wirtschaftswelt hieße das: Jemand investiert 750.000 € und bekommt dafür 25 Millionen heraus oder im schlimms- ten Fall nur 7 ½ Millionen! Das ist mehr als jeder Börsenspekulant sich erträumen würde! Mit anderen Worten: Der Gewinn steht in keinem Verhältnis zum Verlust. Vieles geht zwar im Detail verloren. Doch was wiegt das angesichts eines Ertrags, der in solchen Größendimensionen liegt! Hundertfach kann die Frucht wachsen. Das sieht man nicht immer 22

gleich, nicht beim Aussäen und auch nicht, wenn man dem Sämann zuschaut. Doch wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, der sieht und hört es. Wie viele Menschen gibt es doch, die sich selbstlos anderen zur Verfügung stellen oder sich rührend um sie kümmern, manchmal sogar unter Gefahr für ihr eigenes Leben, weltweit, aber auch unter uns, nicht immer spektakulär, sondern oftmals ganz schlicht und einfach! Hat nicht gerade die Corona-Pandemie gezeigt, wie manche regelrecht zu stillen Helden geworden sind, vor allem Ärztinnen und Ärzte oder Pflegekräfte, die sich aufopferungsvoll für Schwerstkranke, Alte und Behinderte eingesetzt haben? Und andere, gerade auch Jüngere, entwi- ckeln derzeit immer neue Möglichkeiten, um wirksam helfen zu können. Liebe Schwestern und Brüder, was kann uns dieses Gleichnis am heu- tigen Tag sagen, der uns ja auch mit Wehmut erfüllt? Ja, Jesus mutet uns zu, uns dieser vergänglichen Welt und dem oft so vergeblich schei- nenden Ackern auszusetzen. Doch zugleich stiftet er auch einen Keim des neuen Lebens in uns hinein. Wir sind nicht nur vergänglich, wir tragen auch die neue Schöpfung in uns. Das heißt, mögen sich auch die äußeren Formen und Strukturen unseres kirchlichen Lebens verändern, mag auch noch so viel zusammenbrechen und anscheinend untergehen, Jesus selbst sorgt dafür, dass sein Auftrag weitergeht; er sorgt dafür, dass es Menschen gibt, die sein Wort hören; er sorgt dafür, dass es Beru- fungen verschiedenster Art gibt – und vielleicht sogar auch solche, wie wir sie uns bisher nicht vorgestellt haben . Das kann uns entlasten, das kann uns eine große – und zugleich nüchterne – Gelassenheit schenken. Unsere Erfahrungen von Mühe und Vergeblichkeit, ja auch von Abschied und Trauer, sind zwar real, aber sie wiegen so wenig im Vergleich zu der Frucht, die Gott selbst heranreifen lässt. Lieber Pater Ubald, lieber Pater Alfons und lieber Bruder Michael, Sie dürfen trotz allem, was vergeblich erscheinen mag, und auch wenn das Wirken Ihrer Ordensgemeinschaft hier in Halberstadt nicht weiterge- hen wird, auf eine reiche Frucht zurückschauen. Die Provinzoberin einer anderen Ordensgemeinschaft hat es angesichts der kleiner werdenden Zahl ihrer Schwestern einmal so formuliert: „Vielleicht kann man das Wirken unserer Kongregation als Projekt, als einen zeitlich begrenzten Arbeitsauftrag Gottes verstehen, den wir hierzulande sicher nicht immer und überall mit Bravour, aber insgesamt doch im Sinne des Evangeliums erfolgreich erledigt haben und dessen Früchte wir nun in andere Hände 23

legen. Wir Schwestern sind dankbar, dass wir die Aufgaben angepackt haben und dass Menschen durch uns Gott begegnen konnten“ (Sr. Do- minika Kinder). Liebe Brüder vom heiligen Franziskus, dies trifft auch für Sie zu. Durch Sie konnten Menschen Gott begegnen. In großer Geduld haben Sie Tag für Tag das Wort Gottes in der Zuwendung zu den Menschen ausgesät. Sie wussten, dass die hundertfältige Frucht nicht Ihr Werk ist, dass Sie aber dafür gebraucht wurden, die Grundlagen dafür zu legen. Dafür sei Ihnen von Herzen gedankt! Mögen Sie auch jetzt im Alter immer wieder die Erfahrung machen, von der der Römerbrief spricht: dass „nichts Sie scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (vgl. 8, 39). Bischof Dr. Gerhard Feige predigt zur Abschiedsfeier der Franziskaner aus Halberstadt 24

Ermutigende Worte des Bischofs von Magdeburg anlässlich der Instruktion der Kongregation für den Klerus vom 20. Juli 2020 Liebe Schwestern und Brüder im Bistum Magdeburg und darüber hinaus, eigentlich hatte ich mich innerlich schon fast auf meinen Urlaub eingestellt, dann aber wurde von der römischen Kongregation für den Klerus mitten im „Sommerloch“ ohne vorherige Konsultation mit uns Bischöfen oder Ankündigung eine Instruktion mit dem Titel „Die pastorale Umkehr der Pfarrgemeinde im Dienst an der missionarischen Sendung der Kirche“ veröffentlicht. Schon bald meldeten sich Bischöfe, Theologen und andere überwiegend kritisch zu Wort, einige hingegen lobten das Schreiben. Auf jeden Fall hat es zum Teil große Unsicherheiten und Fragen ausgelöst. Leider treffen wir deutschen Bischöfe uns erst beim Ständigen Rat am 24. August 2020 wieder, um darüber reden zu können. Angesichts mancher Besorgnis halte ich es jedoch für angebracht, mich heute schon einmal dazu zu äußern. „Wir wollen eine Kirche sein, die sich nicht selbst genügt, sondern die allen Menschen Anteil an der Hoffnung gibt, die uns in Jesus Christus geschenkt ist … Deshalb nehmen wir die Herausforderung an, in unserer Diasporasituation eine missionarische Kirche zu sein. Einladend, offen und dialogbereit gehen wir in die Zukunft.“ In diesem Leitwort von 2004 sehen wir Christen im Bistum Magdeburg schon seit Jahrzehnten unse- re besondere Sendung. Insofern stimme ich den Äußerungen von Papst Franziskus zur missionarischen Ausrichtung aller unserer Bemühungen, die die jüngste römische Instruktion zitiert, voll und ganz zu. Dass ein solcher Bewusstseinswandel nicht leicht ist und nur mühsam Gestalt annimmt, wissen wir aus eigener Erfahrung. Viele leben mit und aus ihren Erinnerungen und Prägungen und haben andere Vorstellungen von Kirche oder wollen sich in ihr einfach nur heimisch fühlen. Zudem gibt es unterschiedliche Meinungen darüber, wie Kirche zu sein hat. Inzwi- schen begreifen aber auch immer mehr, was wir in unseren Zukunfts- bildern so formuliert haben: „Wir sind Gottes Zeugen hier und heute. 25

Als schöpferische Minderheit setzen wir in ökumenischem Geist seinen Auftrag um: in unseren Pfarreien, in Gemeinden, Gemeinschaften und Einrichtungen, in Kooperationen mit Partnern in der Gesellschaft.“ Und das ist nicht nur Theorie. Immer wieder kann ich nur staunen, wie be- gnadet und kreativ auch eine „kleine Herde“ von gläubigen Christen sein kann: in geistlichen und katechetischen Belangen, im Erziehungs- wie im Bildungsbereich, kulturell und politisch oder in der Sorge um Notlei- dende und Bedürftige. Dafür bin ich allen sehr dankbar, ob geweiht oder beauftragt, angestellt oder ehrenamtlich, getauft oder uns anderwei- tig verbunden. Viele nehmen Verantwortung wahr, geben – auch wenn manche Erfahrungen entmutigen könnten – nicht auf, sondern bringen sich mit ihrem Glauben und Vertrauen, ihren Charismen und Fähigkeiten aufopferungsvoll ein, damit Kirche auch unter den ostdeutschen Voraus- setzungen und Bedingungen einer äußerst säkularen Diaspora lebendig und wirksam bleibt. Wir haben nicht die Illusion, wenn man nur wolle, könne man alles erreichen, oder dass Kirche immer so sein muss, wie sie jahrzehntelang bei uns war. Zum einen ist sie nicht unser Werk, son- dern verdankt sich Gott, zum anderen kann sie – wie ihre zweitausend- jährige Geschichte und ihr heutiger weltweiter Zustand zeigen – auch Bischof Dr. Gerhard Feige bei der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz 26

unter schwierigsten Umständen Wurzeln schlagen und sich entfalten. Entscheidend ist aber, dass möglichst viele Getaufte und Gefirmte be- greifen, eine eigene Berufung zu haben und gemeinsam Kirche zu sein. Außerdem ist entscheidend, sich nicht als Nachlassverwalter, sondern als Wegbereiter zu verstehen. Große Veränderungen liegen bereits hinter uns. Seit 2010 haben wir 44 Pfarreien. Bei einer derzeitigen Katholikenzahl von etwa 79.000 ist das noch eine üppige Zahl, im Hinblick auf eine gewisse natürliche Nähe an- gesichts der Weite unseres Bistums und des Territoriums der einzelnen Pfarreien aber zu rechtfertigen. Inzwischen steht jedoch schon für zehn Pfarreien kein eigener Pfarrer mehr zur Verfügung und werden heutigen Einschätzungen zufolge 2030 insgesamt nur noch etwa 20 Priester im aktiven Dienst sein. Hinzu kommen weitere schwerwiegende Nöte, die auch nicht als Übergangsprobleme angesehen werden können. Die Ge- stalt von Kirche wird sich sogar noch dramatischer verändern als schon bisher; und das nicht nur bei uns. Da hilft es kein bisschen weiter, nur hehre Prinzipien heraufzubeschwören und auf kirchenrechtliche Vorga- ben zu verweisen. Stattdessen muss unter Beachtung der theologischen und personellen, regionalen und ökonomischen Rahmenbedingungen verantwortungsbewusst und einfühlsam sowie kreativ und mutig über- legt, besprochen und entschieden werden, in welcher Form Pfarreien und Gemeinden auch in Zukunft noch bestehen und lebendig von Gott künden können. In einem solchen Prozess sind wir schon seit langem. Dabei haben wir keine generellen Pläne und perfekten Lösungen, jedoch einige konkre- te Vorstellungen und berechtigte Hoffnungen. Jede Pfarrei, die vor der Frage steht, wie es künftig weitergeht, soll sich daran orientieren, muss aber ihren je eigenen Weg finden, und wird durch das Ordinariat be- gleitet. Und so versuchen wir lokal und regional mit Haupt- und Ehren- amtlichen im Vertrauen auf den Beistand des Heiligen Geistes manches auszuprobieren und Schritte zu gehen, von denen wir meinen, dass sie uns konstruktiv weiterführen können. Als Lernende nehmen wir Anre- gungen gern an. Insofern werden wir auch die Aussagen der jüngsten römischen Instruktion bedenken. Als Bischof lasse ich mich von deren restriktiven Anordnungen aber nicht lähmen und blockieren, da vieles darin ziemlich wirklichkeitsfern ist – besonders was unsere extreme Diaspora-Situation betrifft, die man sich offenbar gar nicht vorstellen 27

kann – und auch keinerlei positive Lösungsmöglichkeiten angesichts des noch größer werdenden Priestermangels aufgezeigt werden. Sicher war es nicht die bewusste Absicht der Klerus-Kongregation, unter den noch gutmütigen Christen „das geknickte Rohr zu zerbrechen und den glim- menden Docht auszulöschen“ (vgl. Jes 42,2), dennoch hinterlässt die Instruktion neben Ratlosigkeit und Verärgerung auch großen Schaden. Manche wird sie demotivieren, sich für unsere Kirche überhaupt noch einzusetzen. Liebe Schwestern und Brüder, lassen Sie sich nicht entmutigen! Suchen wir gemeinsam nach verantwortbaren und verkraftbaren Möglichkeiten, damit Kirche in unserem Bistum auch weiterhin lebendig bleibt und ih- rer missionarischen Sendung gerecht werden kann! Mit großem Respekt und herzlichem Dank für Ihre Treue und Ihr Glaubenszeugnis grüße ich Sie und wünsche ich Ihnen sowohl eine stabile Gesundheit und einen angenehmen Sommer als auch und vor allem Gottes Segen Worum wir bitten sollen Predigt am 26. Juli 2020 in St. Norbert, Magdeburg Vom viel zu kleinen Glückspfennig In einem Märchen für Erwachsene wird erzählt, dass ein junger Mann von einer Hexe auf besondere Art und Weise verflucht wurde. „Werde“ – so lautete ihr Zauberspruch – „ein Glückspfennig, der seinen Findern Unglück bringt. Erlöst sollst du erst sein, hebt dich einer auf, der mehr will als unbedachten Vorteil für sich selbst.“ Das geschieht letztlich auch irgendwann, vorher aber zeigt sich seine negative Bestimmung. Die ersten, die den Goldpfennig finden, sind ein Mann und eine Frau aus einfachen Verhältnissen. Sie verhalten sich, als er ihnen seine wunderbare Wirkkraft anpreist, zunächst skeptisch, lassen sich dann aber doch auf ihn ein. Sieben Wünsche stehen ihnen frei. Nachdem sie sich – gewissermaßen als Test – eine Schüssel Erdbeeren gewünscht haben, wird ihnen gesagt: „Sechs Wünsche sind euch noch vergönnt. Doch bedenkt genau, wonach der Sinn euch steht. Denn was ihr erwählt, wird euch immer ähnlicher euren Wünschen machen.“ Und dann nimmt das Schicksal seinen Lauf. Der nächste Wunsch gilt einem großen und 28

schönen Haus. Dazu muss natürlich das Grundstück auch länger und breiter werden. Der schnellste Wagen der Welt muss her, eine bestens ausgestattete Garage und herrschaftliches Mobiliar. Von all dem berauscht wünscht man sich zu guter Letzt zwei Statuen aus Gold, die sie selbst darstellen sollen. Anders als bei den vorangegangenen Wünschen dauert es diesmal mit der Erfüllung etwas länger. Allmählich aber verfärben sich beide, bis sie golden glänzen; zugleich werden sie immer unbeweglicher und starrer, bis sie schließlich als tote Statuen dastehen. Tatsächlich sind beide ihren Wünschen immer ähnlicher geworden. Treffend sagt dazu auch der Volksmund: „Je mehr er hat, je mehr er will.“ Manche können durch ihren Besitz sogar zu Besessenen werden und sich nur noch darum sorgen, wie sie ihren Reichtum sichern und mehren. Dabei kann man sogar käuflich und gewissenlos werden. Beziehungen gehen in die Brüche. „Beim Geld hört“ – wie es heißt – „die Freundschaft auf.“ Das Interesse an personalen und geistigen Werten – wie z.B. Liebe und Treue, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit – gehen zurück. Religiöse Fragen versanden. Ein hörendes Herz Anderes haben wir heute hingegen aus dem ersten Buch der Könige über den weisen König Salomo gehört (3,5.7-12). Auch ihm wird – aber von Gott im Traum – eine Bitte gewährt. Und Salomo wünscht sich nicht ein langes Leben, Reichtum oder den Tod seiner Feinde, sondern ein hörendes und verständiges Herz, um sein Volk regieren und das Gute vom Bösen unterscheiden zu können. Sollte das nicht auch ein Maßstab für unser Denken und Beten sein, um nicht kurzsichtig und vordergründig zu bleiben, sondern weiter, tiefer und offener zu werden? 29 Norbert-Figur in der Kathedrale St. Sebastian

Ein hörendes Herz beträfe zunächst einmal die Dinge, mit denen wir zu tun haben. Meinen wir nicht oftmals stattdessen, für alles bereits ein fertiges Rezept zu haben, zu wissen, was richtig und notwendig ist? Ist unser Handeln nicht durch viele Vorurteile und Eigeninteressen be- stimmt? Ein hörendes Herz beträfe dann den Mitmenschen, dem wir begegnen. Wir sollen ihn lieben wie uns selbst. Wie können wir das aber, wenn er uns unbekannt und fremd ist, wenn wir ihn nicht begreifen? Zuerst muss man also auf ihn hören, über ihn nachdenken, sich in ihn hineinversetzen. Dann erst kann man wirklich helfen. Ein hörendes Herz beträfe schließlich auch Gott, der uns immer nahe ist. Wer richtig auf die Dinge der Welt und auf die Mitmenschen hört, hört bereits auf Gott. Denn in den Dingen, erst recht im Nächsten, spricht uns Gott an, fordert er uns heraus. In besonderer Weise werden wir von Jesus Christus ange- sprochen und durch seine Botschaft hellhörig gemacht, um unterschei- den und verstehen zu lernen, was für uns und andere wesentlich ist. Was Salomo sich wünschte, war nicht die über alles verfügende Ver- nunft, sondern ein weises und einsichtiges Herz, ein Gespür für die Wahrheit, ein restloses Vertrauen in die Allmacht und Barmherzigkeit Gottes. Dazu will uns auch Jesus anregen. Am markantesten kommt das in den Worten zum Ausdruck, mit denen er im Garten Getsemani vor seiner Festnahme gebetet hat (Mt 26,39b): „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Wir können Gott alles sagen, was uns bewegt, und ihm alle Nöte und Sorgen vortragen, sollten dabei aber mehr auf ihn hören und uns ihm anvertrauen, als zu meinen, mit ihm handeln zu können. Und auch dabei gilt: Was wir erbeten, wird uns immer ähnlicher unseren Bitten machen. Innen- und Außenwirkung Bedenkenswert halte ich in diesem Zusammenhang auch, was Valerie Schönian, eine Journalistin, die an unserem Norbertus-Gymnasium vor etwa zehn Jahren ihr Abitur gemacht hat, aber nicht Christin ist, kürz- lich so formuliert hat: „Beten kann ja jedem passieren. Auch Atheisten verschicken schnell mal ein ‚bitte‘ oder ‚bitte nicht‘ in Richtung Himmel, wenn sie eine Pandemie erleben, am Krankenbett eines lieben Menschen sitzen oder einfach nur zum Zug rennen, den sie auf keinen Fall verpas- sen dürfen. Selbst wenn es dabei dann nicht um den bewussten Versuch 30

eines Zwiegesprächs mit Gott geht: Auch hinter so einem atheistischen Stoßgebet verbirgt sich, wenn man ehrlich ist, doch stets eine Hoff- nung, dass es nicht sinnlos ist. Und wenn es Gott gibt – behaupte ich mit der Autorität meiner kirchlichen Laienhaftigkeit –, dann ist es das nicht. Dann wären diese ausgestoßenen Gedanken mehr als ein Selbst- gespräch. Sie wären dann eine Art des unbewussten Betens. Dass dieses – wie auch immer es nun um Gott steht – hilfreich sein kann, leuchtete mir schon immer ein. Es gibt einem schließlich das Gefühl, handeln zu können. Aber trotzdem, ich selbst bin nie davon ausgegangen, dass sich durch das Beten tatsächlich etwas ändert in der Welt … Deswegen“ – so sagt sie weiter – „ irritierte mich vor allem die Zeit, die Christen der bewussten Kontaktaufnahme mit Gott widmen ... Ich fragte mich, was es bringen soll, so lange mit gefalteten Händen vor sich hin zu atmen. Und ich dachte: In der vielen Zeit, in der ihr betet, dass die Welt bes- ser wird, könntet ihr auch einfach versuchen, sie selbst besser zu ma- chen. Mittlerweile sehe ich das anders.“ Warum, beschreibt sie so: „Viele Menschen, die ich kenne und die sich Atheisten nennen, haben begon- nen zu meditieren, weil ihnen die Krise plötzlich ihr gut durchgeplantes Jahr um die Ohren gehauen hat. Ich selbst habe zumindest versucht, zu beginnen zu meditieren.“ Und dabei hat sie gemerkt: „Auszuhalten, da zu sein und alles andere kommen und gehen zu lassen, hilft, Ruhe Norbert-Reliquiar in der Kathedrale St. Sebastian Magdeburg 31

zu bewahren und Angst zu nehmen … Es kann einem Sicherheit geben. Und Stärke. Ganz so unähnlich klingt das dem christlichen Gebet doch nicht.“ Und ihr Resümee ist: „Damit hat auch beides doch eine Außen- wirkung. Denn man kann ja nur agieren, wenn man sich selbst nicht verliert. Wenn das Beten oder Meditieren uns verändert, dann verändert es doch auch mittelbar die Welt, weil wir zu dieser gehören.“ Es ist also durchaus sinnvoll, zu beten oder zu meditieren. Dabei kann es nicht nur passieren, dass Wünsche oder Bitten in Erfüllung gehen, sondern auch, dass wir unseren Wünschen oder Bitten immer ähnlicher werden und dies sich auf unser weiteres Leben und unsere Welt deut- lich auswirkt. Damit ist es nicht egal, was wir wünschen oder erbitten: materielle Reichtümer oder ein hörendes Herz. Dompropst Reinhold Pfafferodt führt Kathedralpfarrer Daniel Rudloff als neuen Domkapitular ein 32

Zumutungen und Erwartungen Predigt zur Einführung des Kathedralpfarrers Daniel Rudloff am 30. August 2020 in St. Sebastian Liebe Schwestern und Brüder, ein neuer Pfarrer wird eingeführt, beginnt offiziell seinen Dienst an anderer Stelle als bisher, dazu in einer Zeit vielfältiger und spannungsreicher Veränderungen – und dann auch noch zugleich für zwei Pfarreien sowie an einer Bischofskirche. Was kommt da auf Sie, lieber Herr Pfarrer Rudloff, zu? Worauf dürfen Sie sich freu- en? Welche Zumutungen oder Erwartungen aber verbinden sich auch damit? Viel wird von Seelsorgern erwartet, manchmal auch zu viel. Am besten sollten sie eine Mischung unterschiedlichster Berufe sein: vom Verwaltungsleiter, Bauherren, Denkmalschützer, Manager und Politiker bis zum Lehrer, Sozialarbeiter, Psychologen und Unterhaltungskünstler. Tatsächlich kann manche Qualifikation über das Theologiestudium hinaus hilfreich sein; einiges erscheint sogar notwendig. Und doch sollte ein Priester über all dem, womit er sich zu beschäftigen hat, nicht seine eigentliche Berufung vergessen: Menschen zu Jesus Christus hinzuführen und ihnen damit Wahrheit, Liebe und Sinn zu erschließen. Könnte es nicht genau darum gehen, wenn wir von der Berufung des Priesters sprechen? Richtet sich die Sehnsucht der Menschen nach Seelsorge nicht genau darauf? Hat unsere Gesellschaft nicht vielleicht sogar gerade heute – in den Herausforderungen der Corona-Pandemie – mehr denn je solche Menschen nötig, die dafür einstehen, dass es einen letzten tragenden Grund gibt, die inmitten einer säkularisierten Welt die Spuren Gottes in der Geschichte und im eigenen Leben aufzeigen? Sind nicht nach wie vor solche Menschen – und damit meine ich nicht nur Priester – gefragt, deren Lebensstil geistige Unruhe schafft und zum Nachdenken provoziert? „Gleicht euch nicht dieser Welt an“ – ruft Pau- lus seinen Gemeindemitgliedern in Rom zu (Röm 12, 2) – „sondern lasst euch verwandeln durch die Erneuerung des Denkens, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene.“ Wer dazu bereit ist, muss wie Jesus selbst irgend- wann mit Widerstand rechnen. Im heutigen Evangelium kommt dies 33

unmissverständlich zur Sprache, als Jesus Petrus zurechtweist: „Du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen“ (Mt 16, 23). Was die Menschen wollen, erlebt Jesus am eigenen Leib: „Sie lassen ihre Gewohnheiten und Überlieferungen nicht in Frage stellen“ (Klaus Müller). Wer wie Jesus Gott öffentlich den Vorrang gibt und von ihm her versucht, nach dem Maßstab der Liebe zu leben, gerät deshalb früher oder später in Konflikte und wird nicht ohne Kreuzeserfahrungen bleiben. Was aber macht nun das Besondere eines Pfarrers aus? Nüchtern heißt es dazu im Codex des kanonischen Rechtes unserer Kirche (CIC 1983, Can. 519): „Der Pfarrer ist der eigene Hirte der ihm übertragenen Pfarrei; er nimmt die Seelsorge für die ihm anvertraute Gemeinschaft unter der Autorität des Diözesanbischofs wahr, zu dessen Teilhabe am Amt Christi er berufen ist, um für diese Gemeinschaft die Dienste des Lehrens, des Heiligens und des Leitens auszuüben, wobei auch andere Priester oder Diakone mitwirken sowie Laien … mithelfen.“ Bis vor einigen Jahrzehnten sah das in der Regel so aus, dass der Pfarrer die meisten Mitglieder seiner Pfarrei persönlich kannte. Die Pfarrei war wie eine große Familie mit ihrem Pfarrer als einer zentralen Leitfigur. Dieses Bild hat sich inzwischen doch sehr gewandelt. Ein Pfarrer kann nicht all das weiterführen, wofür einmal – wie im Fall unserer jetzi- gen Kathedralpfarrei und der Pfarrei St. Maria – sechs Pfarrer zuständig waren. Andererseits sind neue Akzente zu setzen, um den veränderten Herausforderungen gerecht zu werden und lebensfähig beziehungswei- se lebendig in Erscheinung treten zu können: als Pfarreien und auch als „Kirche vor Ort“. Dazu muss sicher überlegt werden, wie man künftig noch dichter zusammenrückt. Dazu gehört ebenso, sich als Angehörige beider Pfarreien noch mehr für die sozial-karitativen Einrichtungen auf dem eigenen Gebiet verantwortlich zu fühlen. Sind diese als Orte der Begegnung zwischen Christen und Nichtchristen nicht eine besondere Chance, das Evangelium Jesu Christi zu bezeugen? Geändert hat sich aber vor allem auch das Verständnis vom Hirten- dienst eines Pfarrers. Schon Papst Benedikt XVI. sprach 2009 von einer „Änderung der Mentalität“ und forderte dazu auf, dass alle Gläubigen „mitverantwortlich sind für Sein und Handeln der Kirche“. Leitung kann dann letztlich „auch nur gemeinschaftlich wahrgenommen werden“. 34

Das aber bedeutet für den Leitungsdienst des Pfarrers, sich vor allem darum zu bemühen, dass die Getauften ihre Berufung erkennen und aus ihr leben können. Seine geistliche Vollmacht „ist somit eine Vollmacht zum Dienst an den Gläubigen“ , damit diese immer tiefer in ihre persön- liche Beziehung zu Jesus Christus hineinwachsen. Er hat dann die Auf- gabe, „in einer sich verändernden Gesellschaft zusammen mit allen im Volk Gottes den Weg zu finden“, wie das Evangelium heute gelebt und bezeugt werden kann. Letztlich gehören dazu die Überzeugung und das Vertrauen, nicht aus eigener Macht handeln zu müssen, sondern vom Heiligen Geist geführt zu werden. Von ihm kommen die Gaben der Weis- heit, der Einsicht, der Stärke und der Unterscheidung, die es braucht, wenn Menschen miteinander um den rechten Weg ringen. Schließlich ist Daniel Rudloff auch noch an einem ganz besonderen Ort Pfarrer: an der Kathedrale. Hier ist – wie die Kathedra, der mit Wappen geschmückte Sitz hinter dem Altar zum Ausdruck bringt – der Bischof zu Hause. Hier trifft sich nicht nur die ansässige Gemeinde, hierher kom- men auch andere Magdeburger oder Auswärtige, Gläubige aus unse- rem Bistum und darüber hinaus, Gäste und Touristen aus dem In- und Ausland. Neben den regulären Gottesdiensten der ansässigen Gemeinde finden bisweilen auch sehr feierliche statt. Für viele ist diese Kirche eine vertraute Heimstatt; oftmals bietet sie aber auch Suchenden und Inter- essierten eine erste Anlaufstelle. Immer wieder treffen unterschiedliche Kathedralpfarrer Daniel Rudloff bei seinem Einführungsgottesdienst 35

Voraussetzungen und Erwartungen aufeinander, gibt es auch Spannun- gen und Enttäuschungen. Man kann diese Multifunktionalität der Kir- che St. Sebastian als schwierig oder sogar als belastend beklagen, man könnte sie aber auch als Chance begreifen, um miteinander konkret et- was von dem Wirklichkeit werden zu lassen, was wir uns ja bei unserem Pastoralen Zukunftsgespräch auf die Fahne geschrieben haben: „Wir wagen den Aufbruch. Wir wollen eine Kirche sein, die sich nicht selbst genügt, sondern allen Menschen Anteil an der Hoffnung gibt, die uns in Jesus Christus geschenkt ist“. Auch haben Gläubige aus verschiedenen Gegenden unseres Bistums nach den Livestream-Gottesdiensten aus St. Sebastian wiederholt betont, wie wichtig ihnen die Verbundenheit mit ihrer Bischofskirche ist. Pfarrei wie Kathedralkapitel und Bischof sind hier gefragt, gemeinsam nach Möglichkeiten zu suchen, das Evangelium für noch mehr Menschen anziehend zu machen. Und der neue Pfarrer kann dabei sicher hilfreich vermitteln. Lieber Herr Pfarrer Rudloff, liebe Schwestern und Brüder, viel Mut, Fan- tasie und Überzeugungskraft sind nötig, um zukunftsweisende Lösungen für die Entwicklung unserer Pfarreien mit ihrem christlichen Auftrag in der heutigen Zeit zu finden. Mehr denn je wird uns allen – auch und insbesondere einem Pfarrer – abverlangt, umzudenken und gemeinsam neue Wege zu beschreiten. Entscheidend ist dabei, dass wir uns im- mer wieder neu die Frage stellen, die Jesus im Evangelium vom letzten Sonntag seinen Jüngern gestellt hat: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Wer bin ich für euch? Welches ist mein Platz in eurem Leben?“ Sich zu Jesus Christus zu bekennen, ihn anzubeten und ihm nachzueifern, sollte darauf für uns keine akademische, sondern eine existentielle Antwort sein. Wenn das fehlt, verlieren wir alles! Und was könnten wir dann den anderen Menschen noch geben?“ Lieber Herr Kathedralpfarrer, mögen Sie sich nun mit den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sowie allen, die sich vielfältig einbringen, mutig und gelassen dem stellen, wozu Sie berufen und beauftragt sind. Seien Sie – wie ein Franziskaner den Dienst der Leitung einmal umschrieben hat – ein „Liebhaber des Lebens, der Welt und der Menschen“, denn – so schreibt er – „die eigentliche Kraft und Stärke der Führung liegt in dieser Liebe“. Von Herzen wünsche ich Ihnen dazu Gottes Segen! 36

Chrisam-Messe Corona-bedingt nachgeholt am 5. September 2020 Die heiligen Öle In diesem Jahr ist vieles anders. Unser Alltag ist nach wie vor von der Corona-Pandemie bestimmt. Das macht sich natürlich auch in unserem kirchlichen Leben bemerkbar. So feiern wir heute z.B. die Chrisam- Messe nicht in der Karwoche, wie es normalerweise der Brauch ist. Wir feiern sie an einem Tag, der sonst in jedem Jahr der Samstag vor unserer Bistumswallfahrt ist. Auch diese kann ja in diesem Jahr nicht stattfinden. Dennoch braucht es, so meine ich, Zeichen dafür, dass wir als Gläubige des Bistums miteinander verbunden sind. Ein solches Zeichen sind die heiligen Öle, die in der Chrisam-Messe geweiht werden. Nach der Weihe werden sie im ganzen Bistum verbreitet und bei der Taufe, Firmung und Krankensalbung sowie der Priesterweihe verwendet, aber auch bei einer Kirchweihe, Altarweihe oder Glockenweihe. Die Chrisam-Messe bringt so in besonderer Weise unsere Verbundenheit miteinander zum Ausdruck. Die heiligen Öle bauen uns als Volk Gottes auf und stärken uns. Das erfahren wir gerade in entscheidenden Momenten unseres Lebens: am Beginn unseres Lebens als Christen, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, in Krankheit und Not und in der Priesterweihe als Besiegelung der Berufung Einzelner zum Dienst an allen. Genau an diesen Brennpunkten unseres je eigenen Lebens werden wir mit Öl gesalbt. In der Chrisam-Messe wurden in der Kathedrale St. Sebastian in Magdeburg die Heiligen Öle Chrisam, Katechumenen- und Krankenöl geweiht. 37

Für die Menschen des Mittelmeerraums ist das Öl, das aus der Olive gewonnen wird, seit alters her ein Zeichen der Fülle und des Segens. Es gibt „gespeicherte Sonnenkraft ab“ (Rupert Berger), es ist heilsam, es schützt und pflegt, und es spricht denen, die rituell damit gesalbt wer- den, eine besondere Würde zu. So war es schon im Alten Testament: Kö- nige, Priester und Propheten wurden mit Olivenöl gesalbt und so als von Gott Gesegnete und Beauftragte ausgezeichnet. All diese verschiedenen Dimensionen kommen in den drei verschiedenen Ölen zum Ausdruck. Da ist zum einen das Katechumenen-Öl. Damit werden diejenigen ge- salbt, die sich auf die Taufe vorbereiten. Sie werden dadurch auf ihrem Weg bestärkt. Im Segensgebet heißt es deshalb: „…gib den Taufbewer- bern, die wir damit salben, Kraft, Entschlossenheit und Weisheit…“. Dann gibt es das Öl für die Kranken. Schon seit frühchristlicher Zeit hat es die Kirche als ihre Aufgabe angesehen, in der Nachfolge Jesu Kranken die Hände aufzulegen, sie mit Öl zu salben und für sie zu beten (vgl. Jak 5, 14-15). Dieses Öl ist ein Zeichen göttlichen „Erbarmens, das Krank- heit, Schmerz und Bedrängnis vertreibt, heilsam für den Leib, für Seele und Geist“ – wie es im Segensgebet heißt. Und schließlich dann das wichtigste Öl, das Chrisam-Öl. Es gibt ja auch dieser Feier ihren Namen. Chrisam wird vor allem bei der Taufe und Firmung (und auch bei der Priester- und Bischofsweihe) verwendet. Es erinnert an die Verbundenheit mit Christus. Denn Christus heißt ja wört- lich: „Der Gesalbte“. Daher haben wir Christen unseren Namen. Durch die Taufe werden wir ihm, dem Gesalbten, ähnlich. Ja, wir sollen sogar „duften“, wie es im Segensgebet heißt. Deshalb werden beim Chrisam- Öl dem Olivenöl noch Duftstoffe beigefügt, vor allem aus dem Saft der Balsamstaude. „Den Armen die frohe Botschaft bringen“ (Jes 61, 1) Vor allem die Salbung mit dem Chrisam-Öl spricht uns eine unzerstörbare Würde zu. Wir sind „gesalbt, nicht angeschmiert“, wie Bischof Kamphaus es einmal formuliert hat. Wie die Könige, die Priestern und Propheten des Alten Testaments sind alle Getauften gesegnet und beauftragt. Das Salböl ist das sichtbare Zeichen dafür, dass sich Jesus Christus in unser Innerstes einschreiben will, uns umwandeln will. Sein Geist will 38

uns beleben, wo wir müde geworden sind, uns Hoffnung geben, wo wir mutlos sind. Und zugleich will diese lebensspendende Kraft über uns hinaus fließen. Sie kennt keine Grenzen, sondern will überall dorthin fließen, wo sie gebraucht wird. „Der Herr hat mich gesalbt; er hat mich gesandt, um den Armen frohe Botschaft zu bringen“ (Jes 61, 1). In diesen Worten des Propheten Jesaja hat sich Jesus erkannt; und wenn er sich in unser Herz einschreiben will, dann gilt das auch für uns. Wo sind für uns hier in unserem Land die Armen, denen wir die frohe Botschaft bringen kön- nen? Wo sind die Gefangenen, die Blinden und die Zerschlagenen? Was bedeutet dieser Auftrag derzeit in der Corona-Pandemie? Dankbar schaue ich auf so viele, die sich seit Monaten um all diejenigen kümmern, die jetzt in Not geraten sind, sei es leiblich oder seelisch. Dankbar schaue ich auf so viele in unserem Bistum, die nach neuen Möglichkeiten suchen, miteinander Gottesdienst zu feiern, einander zu stärken und aus dieser Kraft heraus für andere da zu sein. Ja, liebe Schwestern und Brüder, wir alle, die wir getauft sind, sind Gesalbte, de- nen ein unauslöschliches Zeichen der Verbundenheit mit Jesus Christus eingeprägt ist. Bischof Dr. Gerhard Feige bei der Segnung der Heiligen Öle 39

Priester mit dem „Geruch der Schafe“ Dies immer wieder neu in Erinnerung zu rufen, ist der Auftrag derer, die über die Taufe hinaus das Sakrament der Priesterweihe empfangen haben. Deshalb sind in jeder Chrisam-Messe die Priester besonders angesprochen. Sie versammeln sich jedes Jahr in der Bischofskathedrale, um dann die heiligen Öle mit in ihre Pfarreien und Gemeinden zu nehmen. Unvergesslich ist mir dabei die Predigt zur ersten Chrisam- Messe, die Papst Franziskus im Jahr 2013 als Bischof von Rom gehalten hat. „Seid Hirten mit dem Geruch der Schafe“, rief er den Priestern damals zu. Das Salböl ist nicht dazu sein, salbungsvoll zu werden, sich selbst in Duft zu hüllen. Es ist auch nicht dazu da, in einer Ampulle aufbewahrt zu werden. Es will zu den Menschen fließen. Es soll sie stärken und ihnen ihre Würde bewusst machen, die ihnen in Taufe und Firmung zugesagt ist. Und es soll sie befähigen, in allen kirchlichen Grundvollzügen Verantwortung zu übernehmen. Um diesen Dienst geht es in der sakramentalen Weihe. Liebe Mitbrüder im priesterlichen Dienst, machen wir uns wieder neu bewusst, worin unser Auftrag besteht. „Entfache“ – so heißt es im zwei- ten Brief an Timotheus (1, 6f.,14) – „die Gnade wieder, die dir durch die Auflegung meiner Hände zuteil geworden ist. Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit… Bewahre das dir anvertraute kostbare Gut durch die Kraft des Heiligen Geistes, der in uns wohnt.“ Wie könnte das geschehen in dieser unserer Zeit, in der wir innerhalb und außerhalb der Kirche vor so großen Herausforderungen stehen? Papst Franziskus rät uns dazu immer wieder: „Geht aus euch heraus! Lasst euch auf die Men- schen ein, auf ihre Fragen, auf ihren Schmerz und auf ihre Freude“. Und, so möchte ich ergänzen: steht dabei nicht über ihnen. Bildet mit ihnen eine Gemeinschaft, in der alle Gebende und Nehmende sind. In der auch ihr immer wieder Hörende und Lernende seid. So wird das Salböl, mit dem ihr selbst gesalbt seid, umso mehr zu den Menschen fließen. So kann sich der Geist Jesu Christ umso mehr eurer bedienen, um „den Armen eine gute Nachricht zu bringen, den Gefangenen Entlassung zu verkünden, den Blinden das Augenlicht, die Zerschlagenen in Freiheit zu setzen und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen“ (vgl. Lk 4, 18f.). Liebe Schwestern und Brüder, das ist die wesentliche Sendung der 40

Kirche. Das macht unsere Identität als Christen aus, die Identität aller Getauften. Das verankert auch uns, die wir zu Seelsorgern berufen sind, in Jesus Christus. Mögen viele durch unseren Dienst an der Verkündigung und an den Sakramenten, durch unsere Worte und Werke, ja durch unser ganzes Dasein das Öl der Freude empfangen, das Jesus Christus uns gebracht hat. Dennoch verbunden Brief des Bischofs von Magdeburg zum 6. September 2020 anlässlich der abgesagten Bistumswallfahrt Liebe Schwestern und Brüder, eigentlich findet am ersten Sonntag im September immer unsere Bistumswallfahrt statt. Diese Tradition – zeit- weise auch zu einem anderen Termin – wurde schon Anfang der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts für das damalige Bischöfliche Kommissariat Magdeburg begründet. Soweit ich mich erinnern kann, ist sie seitdem kein einziges Mal ausgefallen. Viele von Ihnen kommen sicher gern an diesem Tag auf die Huysburg, um miteinander den Got- tesdienst zu feiern, einander zu begegnen und sich von den vielfälti- gen Angeboten anregen zu lassen. Die große Zahl der Teilnehmenden hat gerade auch in den letzten Jahren gezeigt, dass diese Wallfahrt ein wichtiges Ereignis in unserem Bistum ist. Erinnerungen an die Bistumswallfahrt 2019 41

Und nun hat die Corona-Pandemie uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Wallfahrt musste abgesagt werden. Um dennoch unsere Verbundenheit im Bistum zum Ausdruck zu bringen, kam eine ande- re Idee auf. Und so fand gestern in Magdeburg die Ölweihmesse statt, die ja sonst in der Karwoche gefeiert wird. Sie wurde per Livestream übertragen. In begrenzter Zahl haben neben einigen Priestern dieses Mal auch andere Vertreterinnen und Vertreter aus Ihren Pfarreien da- ran teilgenommen. Und zu Beginn des heutigen Gottesdienstes sind in einer Kirche Ihrer Pfarrei die heiligen Öle begrüßt worden. Jahr für Jahr werden sie ja vor Ort bei der Taufe, der Firmung und der Krankensalbung verwendet. So wie „Christus“ übersetzt „der Gesalbte“ heißt, erinnert uns besonders auch das Chrisam-Öl daran, dass wir zu Christus gehören und – ebenfalls von Gottes Geist erfüllt – ihm in Wort und Tat nachfol- gen sollen. Liebe Schwestern und Brüder, ist das nicht gerade jetzt, in dieser Zeit der Corona-Pandemie, ein ermutigendes Zeichen? Was heißt das denn anderes als: „Gott ist mit dir, in Angst und Unsicherheit, in Einsamkeit und Krankheit, auch im Sterben“. Außerdem verbindet er uns miteinan- der und gibt uns die Kraft, füreinander da zu sein und aufeinander zu achten. Bistumswallfahrt auf der Huysburg im Jahr 2018 42

Haben wir als Christen damit nicht gerade jetzt, wo die „gesellschaftli- chen, politischen, rechtlichen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Ordnungsmuster … von einem Tag auf den anderen erschüttert (wurden) … einen besonderen Auftrag für unsere Gesellschaft?“ Um das alles auszuhalten und gut damit umzugehen, bedarf es aber einer inneren „Festigkeit“. Dabei geht es um eine „sorgende Haltung, die nicht in der Sorge um die eigene Verwundbarkeit steckenbleibt, sondern für die Ver- wundbarkeit anderer öffnet“. Beides – der eigene innere Halt und die Sorge für andere – ist für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft, ja für unser weltweites menschliches Zusammenleben entscheidend. Hier sind wir als Kirche gefragt. Nach wie vor suchen Menschen nach Orten, an denen sie sich mit ihrer Angst und ihren Fragen aufgehoben fühlen; nach Zeichen und Worten, die ihnen eine Perspektive aufzeigen. Nach wie vor sind wir herausgefordert, verlässliche Orientierungspunkte zu geben – in krisenhaften Zeiten vielleicht mehr denn je. Deshalb er- scheint es mir umso wichtiger, uns gerade jetzt zu fragen, wozu wir als Kirche da sind, anstatt nur um uns selbst zu kreisen. Natürlich bedrängt mich die Frage, wie es mit unseren Pfarreien und Gemeinden weitergehen soll. Und dass in ganz Deutschland seit einiger Zeit so viele aus der Kirche austreten, zeigt, wie dringend es einen „Weg der Umkehr und Erneuerung“ braucht. Die Corona-Krise mit ihren Be- schränkungen auch für unser kirchliches Leben könnte dabei, so glaube ich, tatsächlich ein „kairós“, sein, „eine Zeit der Gelegenheit zum Inne- halten und zu einem gründlichen Nachdenken vor Gott und über Gott. Ich bin überzeugt“ – so schreibt Tomá Halík, ein tschechischer Priester und bedeutender Religionsphilosoph – „dass die Zeit gekommen ist, in der man überlegen sollte, wie man auf dem Weg der Reform weiter- gehen will, von deren Notwendigkeit Papst Franziskus spricht: weder Versuche einer Rückkehr in eine Welt, die es nicht mehr gibt, noch ein Sichverlassen auf bloße äußere Reformen von Strukturen, sondern eine Wende hin zum Kern des Evangeliums, ein ‚Weg in die Tiefe‘“. Fragen wir uns wieder neu: Wer ist Jesus Christus für mich? Wofür braucht er mich? Und wo begegne ich ihm? Ich habe den Eindruck, dass gerade in der Zeit, in der öffentliche Gottesdienste nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich waren, viele in unserem Bistum neue Mög- lichkeiten entdeckt haben, ihren Glauben in diesem Sinne zu vertiefen. 43

Manche haben die Ostertage selbst gestaltet und dabei einen tieferen Zugang zum Osterevangelium gefunden. Andere sind mit ihren Kindern zu einer Kirche gewandert, um dort zu singen und zu beten. Wieder andere haben sich von den vielfältigen Angeboten, die es auf unserer Homepage gab, zu Hausgottesdiensten anregen lassen oder haben sich allein oder gemeinsam Zeit für den Gottesdienst genommen, der als Livestream übertragen wurde. Viele haben auch nach Möglichkeiten gesucht, wie sie die Menschen in ihrer Umgebung unterstützen und ih- nen Freude und Trost spenden können. Nicht wenigen ist dabei zugleich bewusst geworden, wie wichtig es heutzutage sein kann, auch über die digitalen Medien als Kirche bei den Menschen zu sein. Ich bin sehr dankbar zu sehen, wie viele in unserem Bistum gerade in diesen schweren Zeiten Verantwortung wahrnehmen und sich mit ihrem Glauben und Vertrauen, ihren Charismen und Fähigkeiten einbringen, damit Kirche unter den ostdeutschen Voraussetzungen und Bedingun- gen einer äußerst säkularen Diaspora lebendig und wirksam bleibt. All das sind für mich Zeichen dafür, dass viele Getaufte und Gefirmte ihre Berufung längst erkennen und miteinander Kirche sind. Insofern eröff- net die Krise, in die uns die Corona-Pandemie gestürzt hat, tatsächlich eine Chance für unsere Kirchenentwicklung. Sie fordert uns alle heraus, „neu über die visionäre Kraft des Evangeliums nachzudenken und sie in unsere Welt einzubringen“. Liebe Schwestern und Brüder, wichtig ist mir dabei auch, dass wir diesen Weg der Vertiefung gemeinsam gehen. In den Lesungen und im Evan- gelium zum heutigen Sonntag (Ez 33, 7-9; Röm 13, 8-10; Mt 18, 15- 20) ist von der Liebe die Rede, die wir einander schulden, selbst dann, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind. Dazu passt es nicht, dass gerade diejenigen, die in den derzeitigen kirchlichen Prozessen mehr geistlichen Tiefgang fordern, andere zumeist über die digitalen Medien oftmals unter der Gürtellinie beschimpfen und mit Hassparolen aufei- nander losgehen. Natürlich gibt es immer unterschiedliche Meinungen. Und es ist klar, dass Krisen und Veränderungen auch eine große emoti- onale Herausforderung sind. Doch angesichts der dringenden Reformen in unserer Kirche brauchen wir vor allem „einen ehrlichen und offenen Dialog, der von gegenseitigem Vertrauen und Respekt sowie der Bereit- schaft zu einem gegenseitigen Verstehen geprägt ist“. Wir brauchen ei- nander, um miteinander zu hören, wohin der Weg der Kirche gehen soll. 44

Liebe Schwestern und Brüder, dieses Miteinander muss sich auch über unsere kirchliche Gemeinschaft hinaus ausweiten. Deshalb hat die Deut- sche Bischofskonferenz den heutigen Sonntag zum „Sonntag der Soli- darität“ bestimmt. Er soll die Verbundenheit der deutschen Katholiken mit den notleidenden Menschen in aller Welt zum Ausdruck bringen, besonders mit den Leidtragenden der Corona-Pandemie. Bundesweit wird deshalb heute in diesem Anliegen zu einer Sonderkollekte aufgeru- fen. Ich bitte Sie herzlich, diese Kollekte großzügig zu unterstützen und damit Ihre Solidarität mit den Menschen in Lateinamerika, Asien und Afrika, aber auch in verschiedenen Ländern Osteuropas zum Ausdruck zu bringen. Liebe Schwestern und Brüder, lassen Sie sich nicht entmutigen! Beten wir füreinander und suchen wir gemeinsam nach verantwortbaren und verkraftbaren Möglichkeiten, damit Kirche in unserem Bistum auch wei- terhin lebendig bleibt und ihrer missionarischen Sendung gerecht wer- den kann. Mit großem Respekt und herzlichem Dank für Ihre Treue und Ihr Glaubenszeugnis grüße ich Sie und erbitte ich Ihnen Gottes reichen Segen. Nach vielen Monaten der Pandemie kaum noch vorstellbar: so viele Menschen an einem Ort, wie hier auf dem Foto von der Wallfahrt 2019 45

„Wes Geistes Kind wir sind“ Firmpredigt 2020 „Pandemien“ – so hat es jemand (Petra Bahr) neulich einmal gesagt – „haben keine Botschaften, aber die Menschheit könnte Einsichten über sich selbst sammeln.“ Oder anders ausgedrückt: Krisen – wie auch die durch das Corona-Virus ausgelöste – zeigen oftmals deutlicher als ge- wöhnliche Zeiten, „wes Geistes Kind wir sind“. Und was für ein Geist zeigt sich da heutzutage unter uns? Welche Einsichten könnten wir über uns selbst gewinnen? Verletzlichkeit und Würde des Lebens Ein kleines Virus – unsichtbar für das bloße Auge – hat uns alle wie ein plötzlich losbrechender Sturm überrascht, gewissermaßen aus der Bahn geworfen und das Leben jäh verändert. Fast nichts mehr war so wie gewohnt und im Griff zu halten, vieles brach ab und wir merkten auf einmal, wie verletzlich und verwundbar wir Menschen sind. Vielerorts ging – und geht es immer noch – um Leben und Tod, war und ist das Vi- Kreative Arbeit der Firmanden bei der digitalen Firmvorbereitung 46

rus nicht nur nebenan, sondern mitten unter uns, gibt es weltweit noch kein wirkliches Gegenmittel. Allmählich wuchs unter uns auch die Er- kenntnis, dass unser Wohlstand, unsere Freiheit und unsere Gesundheit wohl doch nicht selbstverständlich und grenzenlos sind. Wir Menschen stehen eben nicht über der Natur, sondern sind Teil von ihr. Mit ihr und dem Virus kann man darum auch nicht verhandeln. Dieser Kontrollver- lust macht uns ziemlich unsicher und hilflos, kann aber auch heilsam sein, wieder mehr darüber nachzudenken, was im Leben wirklich wichtig und notwendig ist und was uns auch in einem solchen Sturm Halt gibt. Und worin könnte das bestehen? „Ihr habt“ – so sagt es uns Paulus im Brief an die Römer (8,15f.) – „nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, so dass ihr euch … fürchten müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen (und Töchtern) Gottes macht.“ Was heißt das? Sicher zu- nächst einmal: Wir sollen trotz unserer Hinfälligkeit und Sterblichkeit nicht vergessen, dass jeder Mensch eine Würde hat, die ihm von Gott verliehen ist und niemand nehmen kann. Das gilt auch von den vielen Toten in Norditalien und anderswo, die aufgrund der katastrophalen Umstände massenweise abtransportiert werden mussten und nicht in- dividuell beerdigt werden konnten. Jede und jeder von uns ist einmalig und nicht genormt, zur Freiheit berufen und nicht als Marionette ge- dacht, in vielem berechenbar und doch unendlich geheimnisvoll, mit einer eigenen Geschichte, Sehnsucht und Zukunft. Auch in denen, die anderen als nutzlos, belastend und überflüssig erscheinen, leuchtet das Antlitz Gottes auf. Wer getauft und gefirmt wird, erfährt dies noch einmal auf eine be- sondere und ganz neue Weise: du gehörst zu Gott, du bist mit Jesus Christus verbunden, du hast Anteil an seinem heiligen Geist, du bist kein Sklave widergöttlicher oder weltlicher Mächte mehr, sondern befreit zur Herrlichkeit der Kinder Gottes. Begegnung und Kontakt Lange Zeit waren, um die Ansteckung mit dem Corona-Virus zu verhin- dern oder wenigsten zu verlangsamen, sämtliche Kontaktmöglichkeiten stark eingeschränkt, und noch heute gilt es, entsprechende Abstände zueinander einzuhalten und nicht notwendige Begegnungen zu vermei- 47

den. Auch wenn es technische Möglichkeiten wie Telefon und Inter- net gibt, das zu überwinden, haben viele doch darunter gelitten und schmerzlich vermisst, sich nicht leibhaft sehen und sprechen zu können. Ich denke da besonders an die alten und kranken Menschen, die oftmals unter der Einsamkeit sehr gelitten haben, oder an die Sterbenden, denen in ihrer letzten Stunde niemand beistehen konnte. Und auch ihr, liebe Firmanden, konntet wochenlang nicht in die Schule gehen und die Firm- vorbereitung nicht fortsetzen. Selbst eure Freunde zu treffen, war nicht möglich. Besonders vermisst habt ihr sicher den Kontakt zu euren Groß- eltern oder anderen Verwandten. Und auch heute können nicht alle, die wahrscheinlich sonst gekommen wären mit euch mitfeiern. Das alles hat überdeutlich gemacht und bewegt uns auch noch weiter- hin, wie sehr wir Menschen auf Kontakte, Kommunikation und Dialog angewiesen sind. Niemand von uns kann gänzlich allein leben. Nach der Geburt wären wir ohne die Hilfe anderer Menschen sogar rettungslos verloren und würden im Gegensatz zu manchen Tieren auch gar nicht allein auf die Beine kommen. Und dann wollen wir auch nicht nur so da- hinvegetieren. Ja, jede und jeder von uns sehnt sich danach, als ein un- verwechselbares Wesen akzeptiert zu werden, mit seinen Möglichkeiten und Grenzen, mit seinen Stärken und Schwächen. Schon lange sagen es Auch Bischofs Hund Willi nahm an der Firmvorbereitung teil 48

uns die Psychologen und Philosophen: Ein Kind kann letztlich nur wach- sen und gedeihen, wenn es geliebt wird. Martin Buber hat es einmal so formuliert: „Der Mensch wird zum Ich nur durch das Du.“ Von ihm stammt außerdem der Ausspruch: „Wirkliches Leben heißt Begegnung.“ Auch in der Kirche ist, wer glaubt, nicht allein, soll Freude und Leid mit- einander geteilt werden. Dabei ist es für uns sogar wesentlich, gemein- sam aus dem Geist Jesu Christi zu leben und hilfreich für andere zu sein. Darum sind Kirche – richtig verstanden – alle Getauften. Jede und jeder kann das Antlitz der Kirche verdunkeln oder ihr Leuchten verstärken. In Taufe und Firmung teilt der Geist Gottes – wie es bei Paulus (1 Kor 12) heißt – den Gläubigen „seine besondere Gabe zu, wie er will“, „wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt“. Keiner – so könnte man sagen – hat keine Gaben, keiner hat alle Gaben. Gesellschaftlicher Zusammenhalt Und doch ist noch vieles unvollkommen, sowohl in unserer Kirche als auch in der ganzen Gesellschaft. Spannungen und Konflikte haben in letzter Zeit sogar noch zugenommen und fordern uns gewaltig heraus. Überall in Europa beobachten wir derzeit mit Sorge, dass Vorurteile und Abgrenzungen wieder zunehmen, dass Eigeninteressen wichtiger wer- den als der Sinn für Solidarität. Feindbilder und Verschwörungstheo- rien gehören dazu, Hetze und Hass. Das zeigt sich auch am rücksichts- losen Verhalten mancher in der Corona-Krise. Selbst Gewaltausbrüche sind an der Tagesordnung. Wie können Menschen aber da noch vernünftig zusammenleben? Wie kann es gelingen, Einzelinteressen und Gemeinwohl einer Gesellschaft in ein konstruktives Verhältnis zu bringen und den Zusammenhalt zu stärken? Um eine gewisse Ordnung zu garantieren, hat man seit al- ters her zunächst einmal Verbote und Gebote aufgestellt. Damit ist eine Gesellschaft aber noch nicht wirklich menschenfreundlich. Zudem sind viele inzwischen auch der Meinung: „Wir wollen nicht erzogen, sondern überzeugt werden.“ Das aber erreichen eher Vorbilder oder Tu- genden und Ideale. Die Heilige Schrift, die Geschichte unserer Kirche, aber auch die Gegenwart bieten dazu viele geistvolle Beispiele. Gott und den Nächsten zu lieben ist dabei das Wichtigste von allem. So etwas aber kann man nicht anordnen oder erzwingen. Davon kann man sich 49

nur überzeugen oder begeistern lassen. Wer aber versucht, so zu leben, bringt einen anderen Geist in diese Welt und trägt mit dazu bei, dass sie ein wenig wärmer, freundlicher und menschlicher werden kann. Liebe Firmanden! „Ihr seid das Salz der Erde … Ihr seid das Licht der Welt.“ Eindrücklich hat uns das heutige Evangelium (Mt 5, 13-16) damit unsere Berufung und Sendung als getaufte und gefirmte Christen vor Augen gestellt. Ich wünsche euch sehr, dass ihr an diesem Auftrag Jesu Freude gewinnt, mit Hoffnung und Zuversicht euren Lebensweg geht und euch immer wieder in Kirche und Gesellschaft einmischt. Möge sich deutlich zeigen, „wes guten Geistes Kind ihr seid“! Firmvorbereitung digital „Auf einen Klick mit dem Bischof“ 50

Vom Nischendasein zur schöpferischen Minderheit KNA-Interview von Gregor Krumpholz und Karin Wollschläger zu 30 Jahre Deutsche Einheit vom 18. September 2020 KNA: Was machen Sie in diesem Jahr am Tag der Deutschen Einheit? Gregor Krumpholz, KNA Dr. Karin Wollschläger, KNA Feige: Ich bin zu einem ökumenischen Bittgottesdienst am ehemali- gen Grenzübergang Marienborn eingeladen und soll die Predigt halten. Jesaja 9,1-6 ist dazu als Text ausgesucht worden: „Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht.“ Da rätsele ich noch, wie das zu diesem Anlass gedeutet werden kann. KNA: Sind Sie inzwischen im vereinten Deutschland „zuhause“? Feige: Ich lebe – so meine Selbstwahrnehmung – voll und ganz in der Gegenwart und bin dankbar und froh, nicht mehr die sozialistische – wie es hieß – „Diktatur des Proletariats“ mit ihrem Versuch der „Zwangsbe- glückung“, ihrer Scheindemokratie und ihrem Spitzelsystem ertragen zu müssen. Andererseits bedrücken mich schon die immer noch spürbaren Folgen der Vor- und Nachwendezeit, vor allem aber auch die zunehmen- den neuerlichen Entfremdungen und Konflikte, gesamtgesellschaftlich wie kirchlich. Das hätte ich mir vor 30 Jahren so nicht vorstellen können. KNA: Nehmen Sie als jemand, der fast 40 Jahre in der DDR aufgewach- sen ist, heutzutage noch manches anders wahr als Ihre westlichen Kol- legen? Und reagieren Sie vielleicht auch anders? 51

Feige: Darüber habe ich gerade in den letzten Jahren intensiver nach- gedacht. Dabei ist mir erst so richtig bewusst geworden, welche Erfah- rungen und Prägungen mich auch weiterhin begleiten und sicher auch beeinflussen. KNA: Was meinen Sie damit konkret? Feige: Da ist zunächst einmal die grundsätzlich positive Erfahrung, die ich mit der Kirche von Kindheit an bis elf Jahre nach der Priesterwei- he gemacht habe: einer Kirche, die weitgehend als kleine Minderheit aus Zugezogenen und Vertriebenen bestand, ins gesellschaftliche Ab- seits gedrängt und ohne – wie man heute sagt – „Systemrelevanz“ war, konziliar und ökumenisch gesinnt, vielfach wie eine große Familie ver- bunden, mit den Worten des Erfurter Pastoraltheologen Franz-Georg Friemel: „eine Stätte der Freiheit … eine Gegenwelt zum verordneten Sozialismus … ein Schutzraum für das Menschliche“. Sicher war das „Nischendasein“ kein Ideal, und ich begrüße es sehr, dass wir unter den neuen Bedingungen begriffen haben, uns vielfältig als „schöpfe- rische Minderheit“ einzubringen. Geblieben ist bei mir aber ein feines und kritisches Gespür für alles idelogische Gehabe. Darum verstehe ich das Christentum im Gegensatz zum Marxismus mit seinem absoluten Wahrheitsanspruch auch nicht als ein geschlossenes System, dem sich alle nur ein- oder unterzuordnen haben. Befremdlicherweise wird von einigen Katholiken jedoch gelegentlich ein solcher Eindruck erweckt. KNA: Können Sie noch andere Beispiele für „ostdeutsche“ Prägungen nennen, die bei Ihnen offensichtlich weiterwirken? Feige: Zu DDR-Zeiten verstanden viele die Kunst, gewissermaßen „zwi- schen den Zeilen zu schreiben und zu lesen“. Damit konnte Kritik geübt und verstanden werden, ohne die Gegenseite direkt zu nennen. In letzter Zeit habe ich aber gemerkt, dass fast niemand mehr die Brisanz solcher Äußerungen mitbekommt. Also formuliere ich seitdem deutlicher und direkter. Andererseits betrachte ich in belasteter Erinnerung an frühere Demonstrationen oder Solidaritäts- und Protestaktionen, zu denen man uns zu nötigen versuchte, nach wie vor auch manche christlichen Groß- veranstaltungen oder Empörungs- und Betroffenheitsrituale mit Skepsis und kann solchen Formen kaum etwas abgewinnen. 52

KNA: Am 3. Oktober 1990 hat Bischof Karl Lehmann als damaliger Vor- sitzender der Deutschen Bischofskonferenz gesagt: „Wir brauchen ein neues Denken und Fühlen, um uns wirklich wechselseitig anzunehmen.“ Wie sehen Sie das 30 Jahre danach? Feige: Zweifellos sind wir zusammengewachsen und interessieren uns mehr oder weniger füreinander. Manches hat sich im Laufe der Zeit sehr positiv entwickelt, anderes hat seine Besonderheit verloren und ist wie- der zurückgegangen. Dankbar sind wir vor allem für jede Unterstützung, die uns seitdem gewährt wurde, und wir hoffen, dass Subsidiarität und Solidarität der potenteren Bistümer mit uns im Osten auch weiterhin anhalten. Tatsache ist nämlich, und das wurde und wird oftmals kaum wahrgenommen, dass die Bistümer insgesamt – personell, finanziell, strukturell und kontextuell – sehr ungleich sind. Ob die Verwaltungs- behörde eines Bistums etwa 1000 Mitarbeitende hat oder – wie wir in Magdeburg – nur etwa 40, ist nicht unerheblich. Von allen Bistümern müssen jedenfalls dieselben Standards garantiert werden, und die be- treffenden Herausforderungen haben nicht ab-, sondern zugenommen. Statt Personal zu verringern, müsste noch neues eingestellt werden. Woher aber soll das angesichts der gesellschaftlichen Situation bei uns kommen, und dann auch noch unter Ostkonditionen? Wieviel investie- ren einige Bistümer doch in den Kommunikationsbereich oder andere Aktionen und Projekte, wovon wir noch nicht einmal träumen können. Je kleiner ein Bistum ist, umso größer sind die Pro-Kopf-Ausgaben. Zu- gleich stellen wir aber auch fest, dass das Pro-Kopf-Einkommen aus Kirchensteuern bei uns wesentlich niedriger ist als anderswo, ein deut- licher Hinweis auf die mangelnde regionale Wirtschaftskraft und die soziologische Zusammensetzung unserer Katholiken. Zudem ist unsere Stellung in der Öffentlichkeit bei weitem nicht mit der in anderen Teilen Deutschlands zu vergleichen. Ich wünschte sehr, dass diese Diskrepan- zen erst einmal eine größere Aufmerksamkeit fänden und dazu führten, unsere Verhältnisse wenigstens etwas besser zu verstehen. Vielleicht könnte daraus ja noch mehr erwachsen. KNA: Geschieht das nicht schon durch die kirchlichen Medien? Feige: Keine Frage, es gibt zum Teil neben den Bemühungen ostdeut- scher Journalisten, uns ins gesamtdeutsche Bewusstsein zu bringen, erfreulicherweise auch eine diesbezüglich sehr differenzierte und enga- 53

gierte Berichterstattung westdeutscher Journalisten. Inzwischen befragt man nicht mehr nur den vertrauten „Onkel in der Kolonie“ nach seiner Einschätzung, sondern hört sich die „Einheimischen“ selbst an. Vieles ist also authentischer geworden. Andererseits kann man sich aber auch wundern, dass zum Beispiel die „Katholische Sonntagszeitung“ mit dem Anspruch „für Deutschland“ den Ostbistümern kaum einmal ein paar Zeilen widmet, und dann auch nur, wenn es einigermaßen den eige- nen redaktionellen Vorstellungen entspricht. Und bei Vatican News fällt neuerdings auf, dass manche kritischen Äußerungen sowohl west- wie ostdeutscher Zunge leicht systemkonform „zurechtgebügelt“ werden. KNA: Was wünschen Sie sich? Feige: Es wäre sicher hilfreich und ermutigend, wenn die katholische Kirche in Deutschland bei allen berechtigten Eigeninteressen der ver- schiedenen Bistümer sich insgesamt für die Entwicklung in den öst- lichen Landesteilen noch verantwortlicher fühlen und stärker machen würde. 54

Zwischen Verheißung und Erfüllung Predigt zum Ökumenischen Bittgottesdienst in Marienborn am 3. Oktober 2020 Manche von Ihnen waren bestimmt von der heutigen Lesung (Jes 9, 1-6) überrascht. Normalerweise hören wir diesen Text vor allem an Weih- nachten: in der evangelischen Christvesper und im katholischen Got- tesdienst zur Heiligen Nacht. Licht und Finsternis, Todesschatten und große Freude, und vor allem die Geburt eines Kindes: das sind zutiefst weihnachtliche Themen. Auch der Evangelist Lukas sah darin offen- sichtlich einen Zusammenhang, als er die Vorgeschichte von der Geburt Jesu schrieb und dabei diesen Abschnitt aus dem Buch Jesaja aufgriff (vgl. Lk 1, 79). In der Geburt Jesu erfüllte sich für ihn das, was die Vision des Propheten angedeutet hatte. Ursprünglich waren es aber Trostworte zu einem Volk, das sich in großer Bedrängnis befand. Die beiden Reiche Israel und Juda – unter David und Salomon politisch geeint – hatten sich getrennt, ja sie führten sogar Krieg gegeneinander. Das Südreich, zu dem der Prophet Jesaja gehörte, war politische Bündnisse eingegangen, die fatale Folgen hatten. Das Land wurde von der neuen Großmacht Assur besetzt und verwüstet. Von diesem Volk sagt Jesaja, dass es in der Finsternis geht. Und diesem Volk kündet der Prophet, dass Gott sein Schicksal wenden wird: Die Macht Assurs wird gebrochen, und Gott setzt einen Retter ein. Schon ist er da, denn das Kind ist bereits geboren. Dann sind – wie es heißt – „die große Herrschaft und der Frieden […] ohne Ende“ (Jes 9, 6). Kann man diesen Text auch auf unsere deutsche Geschichte beziehen? Die Trennung in zwei Staaten könnte das zumindest nahelegen. Im Geographieunterricht hing sogar eine Landkarte, die noch eine dritte Größe – die selbständige Einheit Westberlin – aufführte. Eine mögli- che Schlussfolgerung wäre dann, dass sich die Finsternis und die To- desschatten in erster Linie auf die damalige DDR beziehen. Die – wie es hieß – sozialistische „Diktatur des Proletariats“ mit ihrer Scheindemo- kratie und ihrem Spitzelsystem waren in der Tat ein „drückendes Joch“. Zugleich frage ich mich aber auch, ob mit dem „Volk, das in der Fins- ternis ging“, tatsächlich nur die DDR-Bevölkerung gemeint sein muss. 55

Zum einen habe ich zur selben Zeit mit der Kirche eine grundsätzlich positive Erfahrung gemacht. Sie war zwar ins gesellschaftliche Abseits gedrängt und ohne – wie man heute sagt -„Systemrelevanz“, dafür aber konziliar und ökumenisch gesinnt, vielfach wie eine große Familie ver- bunden, mit den Worten des Erfurter Pastoraltheologen Franz-Georg Friemel: „eine Stätte der Freiheit (...) eine Gegenwelt zum verordneten Sozialismus (...) ein Schutzraum für das Menschliche“. Zum anderen erfuhren viele ehemalige DDR-Bürger nach der Wieder- vereinigung Deutschlands, dass die Freiheit in einer pluralistischen Ge- sellschaft durchaus nicht grenzenlos, sondern auch voller Gefährdungen ist. Schon zuvor konnte man im damaligen „Westen“ Opfer von Kon- sumzwang werden oder anderweitig unter die Räder kommen. Und der Druck, den eine Wettbewerbsgesellschaft mit sich bringt, überfordert heutzutage viele Menschen in Ost wie West. Armut ist in unserer frei- heitlichen Gesellschaft kein Randphänomen mehr. Auch der Kapitalis- mus birgt somit die Gefahr der Todesschatten, von denen Jesaja spricht. Zudem wird angesichts von Herausforderungen wie Klimawandel und Pandemien immer deutlicher, wie zerstörerisch sich ein Konzept von Auf dem Weg zum Bittgottesdienst am ehemaligen Grenzübergang Marienborn 56

unbegrenztem Wachstum auswirken kann. Darüber hinaus gibt es in unserem Land neuerliche Entfremdungen und Konflikte, gehören Feind- bilder und Verschwörungstheorien dazu, Intoleranz und Gewalt, Hass und Hetze. Vieles spitzt sich durch die Corona-Pandemie noch zu. Ge- hören zum Volk, das „in der Finsternis geht“ auch die alten Menschen in den Pflegeheimen, die nur eingeschränkt Besuch empfangen durften, oder diejenigen, die einen geliebten Menschen beim Sterben allein las- sen mussten? Sind auch jene darunter zu verstehen, die jetzt erkranken oder in eine Existenzkrise geraten? Und was ist mit den Menschen in Belarus? Und mit den Flüchtlingen in den Lagern von Moria? An welches Volk denken wir also, wenn wir diesen prophetischen Text heute hören? Ist das so eindeutig? Oder wird uns allen damit die Gefahr vor Augen gehalten, jederzeit in ein solches Schicksal abgleiten zu können? Und noch eine Frage beschäftigt mich. Es ist eine wunderbare Verhei- ßung, die der Prophet Jesaja dem bedrängten Volk zuspricht: „Über de- nen, die im Land des Todesschattens wohnten, strahlte ein Licht auf…“ (Jes 9, 1). Und „die große Herrschaft und der Friede sind ohne Ende“ (Jes 9, 6). Doch bereits ein paar Generationen nach Jesaja war das Kö- nigshaus, auf das er seine Hoffnung gesetzt hatte, vollständig unterge- gangen. Und sind mit Christi Geburt tatsächlich die Finsternis und die Todesschatten überwunden und von seinem Licht überstrahlt? Ein jüdischer Autor (André Schwarz-Bart) berichtet, dass Juden im Mit- telalter in der Karwoche in einem kirchlichen Tribunal gefragt wurden, ob die Erlösung nicht schon gekommen sei. Man sieht einen alten Juden hervortreten. „Schmächtig wirkt er in seinem schwarzen Gewand, und zögernd begibt er sich vor das Tribunal. ‚Wenn es stimmt‘, flüstert er mit gedrückter Stimme, ‚dass der Messias, von dem unsere alten Propheten reden, schon gekommen ist, wie erklärt Ihr dann den gegenwärtigen Zustand der Welt?‘“ (Fulbert Steffensky). Diesen Einspruch nehme ich ernst. Wie gehen wir jedoch damit um, dass es wunderbare Erfahrungen von Rettung und Freiheit gibt, die täglichen Nachrichten uns aber auch immer wieder vor Augen führen, dass unsere Welt nach wie vor unerlöst scheint? Trotz dieser Diskrepanz, die bereits die Juden verunsichert hat, haben diese die Vision des Propheten Jesaja nicht aus der Bibel gestrichen. Sie blieb ein Bild dafür, wie Gott die Welt gemeint hat und wie wir sie deshalb auch zu Recht erhoffen dürfen. Und 57

wenn der Evangelist Lukas davon überzeugt ist, dass sich mit der Geburt Jesu Christi diese Verheißung erfüllt hat, dann geht er von einem bibli- schen Verständnis von Erfüllung aus. „Erfüllt sein heißt für die Bibel […] nicht ‚erledigt‘ sein, sondern ‚bestätigt‘ werden: Jesu Kommen bekräf- tigt mit allem Nachdruck das Recht der Zuversicht gegen alles Dunkel, der Hoffnung auf Freiheit und ein Ende der Gewalt und des Bösen. … Das aber heißt: Die Jesus-Geschichte sprengt, was der Prophet ersehnt hat. Zugleich ist längst nicht erledigt, wovon sie redet.“ (Klaus Müller) Ja, es ist längst nicht erledigt. Der Widerspruch zwischen der Verheißung und ihrer Erfüllung ist nach wie vor auszuhalten. Wir brauchen aber den Stachel der Verheißungen, um uns nicht mit dem abzufinden, was wir erleben und was bedrücken kann. Die Verheißung ist dann keine billige Vertröstung, sondern ein Trost, der uns anspornt, über die Erfahrung unserer Wirklichkeit hinaus unsere Hoffnung auf Gott zu setzen und zugleich immer neu das Unsere dafür zu tun, dass doch wahr werden möge, was der Prophet uns zuspricht. Ermutigt durch das Unglaubliche, was vor 30 Jahren möglich wurde, und durch die Lichtblicke, die unser Leben immer wieder erhellen, lassen Sie uns nicht müde werden, die ge- sellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland konstruktiv mitzugestalten und für ein geistvolles Zusammenleben einzutreten. Und vertrauen wir darauf, dass Gott uns dabei nicht allein lässt. Bischof Dr. Gerhard Feige am ehemaligen Grenzübergang Marienborn 58

System- oder Lebensrelevanz? Predigt beim Pastoraltag am 14. Oktober 2020 Verunsicherungen Seit der Coronapandemie ist das Wort Systemrelevanz in aller Munde. Ursprünglich wurde es nur auf Banken angewendet, die für das Finanz- system als unverzichtbar galten und die deshalb vor der Pleite gerettet wurden. Inzwischen bezieht es sich auf all diejenigen Berufsgruppen und Institutionen, die die Gesellschaft am Laufen halten. Im Vorder- grund steht derzeit besonders der gesamte Gesundheitssektor, aber auch die Versorgung mit Lebensmitteln und Energie, das Transport- und Verkehrswesen, die Polizei und die Feuerwehr. Nirgendwo finden sich bei solchen Aufzählungen die Kirchen. Sind wir als Kirchen nicht sys- temrelevant? Haben wir also in diesem Sinne keine Bedeutung mehr für die Gesellschaft? Genau das wurde uns in den letzten Monaten immer wieder auch vor- geworfen: „Ihr habt euch in der Coronapandemie eurer Verantwortung entzogen, ihr habt euch nur um euch selbst und eure Mitglieder geküm- mert – unterm Strich also: Ihr habt versagt!“ „Die Kirche“ – so z.B. die frühere thüringische Ministerpräsidentin Chris- tiane Lieberknecht im Mai in einem Zeitungsinterview – „hat in dieser Zeit Hunderttausende Menschen allein gelassen. Kranke, Einsame, Alte, Sterbende“. Und die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte zur gleichen Zeit einen Kommentar über die Kirche mit dem Titel „Nicht systemrelevant!“ Solche Vorwürfe haben sich auch viele zu Eigen gemacht, die in den Kirchen in irgendeiner Weise engagiert sind, sei es hauptamtlich oder ehrenamtlich. Verstärkt haben sich diese Vorwürfe auch dadurch, weil die Erfahrung der letzten Monate zeigt, dass die Kirchen anscheinend auch für manche ihrer Gläubigen nicht mehr systemrelevant sind. Of- fenbar vermissen diese nämlich gar nichts, wenn es z.B. keine öffentli- chen Gottesdienste oder anderen kirchlichen Angebote gibt. 59

Da liegt für kirchliche Verantwortungsträger dann die Versuchung nahe, sich entweder in heillosen Aktionismus zu stürzen, um der Gesellschaft und den eigenen Mitgliedern zu zeigen: „Wir haben auch etwas zu bie- ten!“ oder – wie es z.B. der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa beklagt – sich mutlos zurückzuziehen, weil man den Eindruck hat, dass die Gesell- schaft uns ohnehin nicht mehr hören will. Selbstvergewisserung Doch anstatt – so der evangelische Theologe Ulrich Körtner – „sich ge- gen den Verlust an Systemrelevanz zu stemmen oder ihn kultur-pessi- mistisch zu beklagen, sollten sich die Kirchen fragen, ob Systemrelevanz überhaupt zu ihrem Wesenskern gehört…“. Ist es denn unsere primäre Aufgabe, das gesellschaftliche Leben am Laufen zu halten und die be- stehenden Systeme zu stützen? „Gleicht euch nicht dieser Welt an“, ruft uns der Apostel Paulus zu (Röm 12, 2). Damit ist keineswegs gemeint, dass wir uns aus der Welt heraushalten sollen. Ganz im Gegenteil! Ein zentrales Kriterium, Gott in dieser Welt zu finden, sind aber Barmherzig- keit und der Einsatz für Gerechtigkeit. Zugleich enthält unser Glaube je- doch immer auch ein kritisches Potential gegenüber gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen aller Art. Statt von Systemrelevanz sollte man in Bezug auf die Kirchen deshalb eher – wie es Hartmut Rosa vorschlägt – von „Existenzrelevanz“ oder „Lebensrelevanz“ sprechen. Durch die Corona-Krise hat der Begriff „sys- temrelevant“ ohnehin schon eine neue Wendung bekommen, geht es bei ihm doch nicht mehr in erster Linie um die Wirtschaft, sondern um das Leben. „Krankenschwestern, Krankenpfleger, Ärzte und Ärztinnen sind nicht deshalb systemrelevant, weil sie ökonomisch wichtig sind, sondern fundamental für das Leben stehen“ (H. Rosa). Dieses Leben ist aber zurzeit weltweit bedroht. Ja, die Coronapandemie macht uns bewusst, dass wir in einer Lebenskrise stecken. Das Leben ist unkontrollierbar geworden, und nicht erst durch das Virus. Längst fühlen sich viele Menschen durch die Finanzkrise und die Klimakrise verunsichert, doch in der Corona-Krise bündeln sich solche Ängste wie in einem Brennglas. „Die Pandemie betrifft alles. Die gesellschaftlichen, politischen, rechtlichen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Ord- nungsmuster wurden von einem Tag auf den anderen erschüttert, exis- 60

tentielle Gewissheiten destabilisiert“. Uns Menschen wird unmissver- ständlich vor Augen geführt, wie verwundbar wir sind. Vertrauen auf Sinn In dieser Situation hat der christliche Glaube etwas zu sagen, was ihn von vielen anderen Deutungen und Angeboten unterscheidet. Er ver- weist auf einen Sinnhorizont, den wir Gott nennen. Dieser Gott ist al- lerdings nicht verfügbar. Er entzieht sich immer wieder, er kann uns auch verstören. „Warum schweigst du, Gott, angesichts des Leids? Wo bist du in unserer Angst?“ Diese Schreie hallen durch die Jahrhunderte. Immer wieder haben Mystikerinnen und Mystiker das Schweigen Gottes als „dunkle Nacht“ erlebt. Und wie eine jüngst erfolgte Studie zeigt, erfahren heutzutage nicht wenige Christinnen und Christen – und dar- unter gerade auch Seelsorgerinnen und Seelsorger – Gott als abwesend. Ja, wir sitzen mit den Menschen unserer Zeit und unserer Umgebung in einem Boot. Wir teilen ihre Angst und ihre Ungewissheit. Wir haben keine fertigen Antworten auf die Frage, warum Gott das Unheil zulässt. Wir sitzen mit den Jüngern Jesu im Boot, das von Wind und Wellen um- hergetrieben wird und haben wie sie oft den Eindruck, dass Jesus sich nicht darum kümmert. „Er lag“ – wie es im Evangelium (Mk 4, 38) heißt – „hinten im Boot auf einem Kissen und schlief.“ Dr. Hubertus Schönemann, Leiter der Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP) in seinem Vortrag „Covid 19 als Brennglas und Katalysator der Pastoral“ 61

Solche Erfahrungen können uns demütig machen. Unsere Verkündi- gung besteht dann nicht darin, im Konzert der Meinungen souverän und selbstsicher aufzutreten und die Menschen von einer hohen Warte herab zu vertrösten. Wir können aber an ihrer Seite bleiben in ihren Ängsten, Fragen und Zweifeln versuchen, Worte zu finden, die etwas von unserer eigenen Hoffnung ausdrücken. Denn dass Gott unverfügbar ist, ist die eine Seite der Medaille. Die an- dere Seite ist, dass er uns in Jesus Christus gezeigt hat, wer er ist: „Da ist einer, der mich liebt, einer, der mir den Atem des Lebens eingehaucht hat“ (H. Rosa). Da ist einer, dem man sich gerade in Angst und Ohn- macht bedingungslos anvertrauen kann. Da ist einer, der mit uns im Boot ist, einer, der den Ängsten gebieten kann: „Schweig, sei still“ (Mk 4, 39). Liebe Schwestern und Brüder, wir brauchen uns als Kirche nicht zu be- mühen, um jeden Preis systemrelevant zu sein. Wohl aber sind wir le- bensrelevant für unsere Gesellschaft. Gerade in den Ängsten unserer Zeit können wir darauf verweisen, was letztlich Sinn macht und trägt, dass wir einen Grund haben, Gott zu vertrauen, auch wenn er unver- fügbar ist. Dazu eignet sich immer das, was Jesus selbst uns geboten hat: die Liebe, die im Gesicht eines jeden Menschen den Bruder und die Schwester erkennt und spürt, was der oder die andere braucht. Zudem haben wir lang bewährte Ressourcen: das Gebet, den Segen, die Stille, die Liturgie. Sie öffnen uns für kostbare menschliche Erfahrungen: Ehr- furcht, Dankbarkeit und Demut. Sie tilgen das Unheil nicht, das es in unserer Welt gibt. Sie helfen uns aber, in der Angst nicht unterzugehen. Ein geistlicher Schriftsteller (W. Bruners) hat es einmal so ausgedrückt: „Nach dem morgendlichen Gang über die Psalmbrücke Drehe ich mich nicht mehr Um die eigene Achse Ich atme die alten Heilsworte in meine Tagängste Und bin guter Hoffnung.“ 62

„Selbstkritik ist kein Thema“ KNA-Interview von Norbert Zonker vom 27. Oktober 2020 zum Konflikt um das Votum „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ des Ökumenischen Arbeitskreises (ÖAK) KNA: Zur Frage der Gemeinschaft von Katholiken und Protestanten bei Eu- charistie oder Abendmahl gibt es jetzt drei aktuelle Texte: Ein „Votum“ des Ökumenischen Arbeitskreises (ÖAK), eine „Stellungnahme“ der Vatikani- schen Glaubenskongregation und eine vorher verfasste, aber später veröf- fentlichte „Würdigung“ durch den Kontaktgesprächskreis von Bischofs- konferenz und EKD. Was gilt denn nun für Katholiken und Protestanten in den Gemeinden? Norbert Zonker, KNA Feige: Manche haben darauf sicher eine klare Antwort, andere hätten sie gern. Tatsächlich ist der Sachverhalt aber differenzierter zu betrach- ten. Das sogenannte „Votum“ ist eine fundierte theologische Studie, die von der Möglichkeit einer wechselseitigen Teilnahme am Abendmahl beziehungsweise an der Eucharistie überzeugt ist, zur Diskussion einlädt und eine konkrete Empfehlung ausspricht. Bei der Stellungnahme aus Rom handelt es sich um einen kritischen Brief mit einigen lehrmäßigen Anmerkungen, die diesen Vorstoß gewissermaßen zurückweisen. Und der dritte Text versucht schließlich aus evangelischer und katholischer Leitungsperspektive gemeinsam zu würdigen, worin die wegweisende Bedeutung des „Votums“ liegt, merkt aber auch an, dass an wichtigen Fragen noch dringlich weitergearbeitet werden muss und deswegen bei- de Seiten offiziell bislang manches abweichend bewerten. Mit „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ ist durch das „Votum“ keine neue ökumenische Einheitsliturgie gemeint, ebenso keine konfessionsüber- schreitende Interzelebration oder Konzelebration, sondern, dass evan- gelische wie katholische Christen auch in der jeweils anderen Kirche 63

kommunizieren könnten. Während die vatikanische Intervention das rigoros bestreitet, die evangelische Seite hingegen dazu offen einlädt, erklären die katholischen Vertreter im Kontaktgesprächskreis, dies nicht generell erlauben zu können. Theologisch sei es jedoch zu verantworten, wenn einzelne sich ihrem Gewissen folgend dafür entscheiden. Was gilt also? Neben allen Regeln und Empfehlungen wird es künftig noch mehr auf das Gewissen ankommen, um darauf eine persönliche Antwort zu finden. KNA: Die Vatikan-Stellungnahme enthält einige sprachliche Fehler und Ungenauigkeiten. Wissen Sie Genaueres über die Hintergründe des Schreibens und den Zeitpunkt der Veröffentlichung? Feige: Inzwischen ist die römische Reaktion allgemein zugänglich, so dass sich Interessierte selbst ein Bild machen können. Manches scheint man nicht verstanden zu haben oder verstehen zu wollen. Insgesamt legt sich der Eindruck nahe, dass diese Entgegnung „mit heißer Nadel gestrickt“ worden ist. Der Brief stammt vom Präfekten der Glaubenskon- gregation, die ausführlicheren Anmerkungen verraten keine Verfasser. Wie man hört, sind – was sonst üblich ist – die Mitglieder der Kongrega- Bischof Dr. Gerhard Feige bei einer Podiumsdiskussion um die Abendmahl-Frage 64

tion im Vorfeld auch nicht damit befasst worden. Da ich nicht zu denen gehöre, die auch inoffizielle Beziehungen nach Rom haben, kann ich leider nicht mehr dazu sagen. KNA: Die Glaubenskongregation bescheinigt dem ÖAK-Votum einige theologische Mängel. Teilen Sie diese Kritik? Feige: Entscheidend ist für mich zunächst einmal, wie auf ein solches Dokument eingegangen wird und welche Maßstäbe man anlegt. Geschieht das im Stil früherer Apologetik und konfessionalistischer Kontroverstheologie oder sucht man ökumenisch sensibel nach dem Verbindenden und erkennt das dankbar an? Schwingt vielleicht immer noch ein exklusivistisches Kirchenbild mit und die Vorstellung, dass der einzige Weg zu einer Einheit der Christen letztlich nur die Rückkehr zur römisch-katholischen Kirche sein kann? Erwartet man daher die restlose Übernahme sämtlicher eigener Lehrvorstellungen oder kann man im differenzierten Konsens eine gemeinsame Methode sehen, um danach auch zu verantwortbaren weiteren Schritten zu kommen? Fragen über Fragen! Auf jeden Fall zeigt die Glaubenskongregation nur auf, was angeblich nicht katholischen Wahrheiten entspricht. Dass es auch Anfragen an die katholische Seite gibt – zum Beispiel hinsichtlich der nicht ganz stiftungsgemäßen Kommunionpraxis unter nur einer Gestalt oder weiterhin missverständlicher Formulierungen zur Opferproblematik – wird mit keiner Silbe erwähnt. Selbstkritik ist kein Thema, genau so wenig wie auch nur ein kleines anerkennendes Wort für die Überlegungen des ÖAK. Stattdessen werden wieder einmal dogmatische und kirchenrechtliche Mauern höher gezogen. Wie lange will man eigentlich noch so verfahren, ohne dass Ökumene zum folgenlosen Glasperlenspiel verkommt? Viele haben schon lange keinerlei Verständnis mehr für solche Manöver und gehen sowieso ihre eigenen Wege. Andererseits habe ich aber auch gegenüber der Studie des ÖAK einige Bedenken. Über vergleichbare Texte ihrer Art hinaus will sie nicht nur weitere Überlegungen auslösen und sich kritischen Einwänden stellen, sondern durch eine praktische Handlungsempfehlung am Schluss auch konkret etwas bewegen. Damit wird kurz vor dem 3. Ökumenischen Kirchentag ein Druck erzeugt, der dem Anliegen schaden könnte. Für viele ist nämlich vor allem nur interessant, ob man jetzt auch bei den 65

anderen zur Kommunion gehen kann, nicht aber ob die Voraussetzun- gen dafür wirklich schon gegeben sind. Außerdem beschreibt die Stu- die einen theologischen Erkenntnisstand, der in ökumenischen Dialogen zwar vielfach erreicht worden ist, der die evangelische wie katholische Theorie und Praxis bislang jedoch nur wenig durchdrungen und offiziell auch noch keine Rezeption erfahren hat. KNA: Hat die Glaubenskongregation die eigentliche Pointe des Votums hinreichend zur Kenntnis genommen, „dass in der Feier der Eucharistie und des Abendmahls Jesus Christus gegenwärtig ist und als Gegenwär- tiger geglaubt wird“, wie es in der „Würdigung“ des Kontaktgesprächs- kreises heißt? Feige: Darauf geht man nicht wirklich ein. Für die römische Kongre- gation ist die kirchliche Vermittlung und das „Wie“ der sakramentalen Gegenwart Christi entscheidender als die Vorstellung der Studie, dass Christus selbst als das „handelnde Subjekt“ sich bei der eucharistischen Mahlfeier „in seiner Person vergegenwärtigt und schenkt“. Für mich ist diese Aussage jedoch so bedeutsam, dass ich neuerdings bei bestimm- ten Anlässen evangelische Abendmahlsgottesdienste noch ehrfürchtiger mitfeiere. Entgegen früherer katholischer Polemik wie: „Zum Abend- mahl kannst du ruhig gehen, da passiert sowieso nichts!“ setze ich jetzt immer – wie auch in unserer Liturgie – ab der Präfation meinen Pileolus ab. KNA: Die Ökumenekommission der Bischofskonferenz soll jetzt laut Beschluss der Vollversammlung ihre bisherige Beurteilung des ÖAK- Votums „um eine Sichtung und Würdigung der lehramtlichen Anmer- kungen“ erweitern und eine Ausarbeitung für die Vollversammlung vor- bereiten. Was ist von dieser Prüfung zu erwarten? Feige: Es geht darum, dass wir in unsere gemeinsam mit der Glaubens- kommission bereits begonnenen Überlegungen zum ÖAK-Text auch die Anmerkungen einbeziehen. Das versteht sich von selbst. Ich kann mir gut einen Studientag mit Experten vorstellen, um zu einer ausgewoge- nen Meinung zu kommen. Das wird sicher nicht mehr vor dem Ökume- nischen Kirchentag möglich sein. Zunächst ist ohnehin der ÖAK selbst gefragt, auf die römischen Einwände einzugehen. 66

KNA: Der 3. Ökumenische Kirchentag will sich nach Bekunden der Ver- antwortlichen weiterhin an dem ÖAK-Votum orientieren. Sehen Sie da- rin ein Konfliktpotenzial? Feige: Das ist zu befürchten. Ich wünschte aber sehr, dass in die ganze Diskussion um diese Frage mehr Sachlichkeit, Sensibilität und Wohlwol- len einzieht. Weder Hochleistungsfest noch Heldengedenken Predigt zum Hochfest Allerheiligen 2020 für die Eucharistiefeier mit dem Deutschlandfunk Wann fühlt man sich glücklich? Für die meisten gehören dazu vor allem: gesund und erfolgreich zu sein, das Leben genießen zu können und von anderen geliebt zu werden. Umgekehrt würde das dann heißen: wer arm ist, krank oder einsam, muss ein unglücklicher Mensch sein. Das jeden- falls wird uns auch täglich in der Werbung vor Augen geführt: Glücklich sind die Schönen und Reichen, die Attraktiven und Selbstbewussten. Im heutigen Evangelium (Mt 5, 1-12) dagegen haben wir etwas ganz anderes gehört. Jesus spricht ausgerechnet dort vom Glück, wo die Glücksforschung es kaum ansiedeln würde: bei denen, die all das nicht haben, was andere genießen: Er nennt die Armen, die Traurigen, dieje- nigen, die sich nach Gerechtigkeit und Frieden sehnen, und die, die be- schimpft und verfolgt werden. Gerade denen wird hier verheißen, dass sie glücklich sein werden. Jesus redet sie mit „Selig seid ihr“ an – und diese „Seligpreisung“ bedeutet nichts anderes als tiefes Glück, tiefe Er- füllung. Das aber stellt alles auf den Kopf, was die meisten Menschen glauben und was sie sich erhoffen. Ist das verrückt oder zynisch? Für wen soll das gelten? Wen meint Jesus eigentlich damit? Das fragt man sich schon seit Jahrhunderten. Manche haben diesen Text so verstanden, dass er tatsächlich nur für diejenigen gedacht ist, die ganz besonders radikal ihren Glauben leben wollen: gesellschaftliche Aussteiger oder eben heiligmäßig Veranlagte. Für christlich „Normal- 67

sterbliche“ sei es unmöglich, so friedlich, barmherzig und vertrauensvoll zu sein. Andere – zum Beispiel Martin Luther – waren davon überzeugt, dass man das durchaus wörtlich nehmen müsse und sehr wohl so leben solle – allerdings aber nur im Privatbereich. Wenn man ein öffentliches Amt habe, könne man sich nicht nach diesen Maßstäben Jesu richten. Fazit also: Mit den Seligpreisungen lasse sich keine Politik machen. Um- gekehrt hielten Marxisten wie Ernst Bloch oder Schriftsteller wie Leo Tolstoi gerade die darin gepriesenen Verhaltensweisen für bestens ge- eignet, eine gerechte und friedliche Gesellschaft herbeizuführen. Wie- der andere – zum Beispiel Friedrich Nietzsche oder Karl Marx – fanden diese Worte Jesu ärgerlich und kontraproduktiv. Statt Menschen zu er- mutigen, sich tatkräftig durchzusetzen und für eine bessere Welt zu kämpfen, würden sie für ihre Schwäche und ihr Versagen auch noch gelobt oder auf ein Jenseits vertröstet. Immer wieder haben die Worte Jesu also Menschen fasziniert, angezogen oder auch abgestoßen. Unberührt davon ist kaum jemand geblieben. Im Grunde aber sind sich die meisten einig: Wenn wir Menschen nur etwas von den Seligpreisungen Jesu verwirklichen würden, sähe es unter uns anders aus. Erfreulicherweise haben sich viele im Laufe der Jahrhunderte mit Leib und Seele darauf eingelassen und oftmals dadurch Beträchtliches zum Wohl und zum Fortschritt der Menschheit beigetragen. Entscheidend war für sie dabei, nicht vor allem auf ihre eigenen Fähigkeiten und Leistungen zu setzen, sondern sich in ihren Bemühungen vielmehr ganz Gott anzuvertrauen und letztlich ihn durch sich wirken zu lassen. Heilige sind darum nicht unbedingt nur strahlende Persönlichkeiten, sondern auch gebrochene, schwache, suchende und ringende Menschen ohne großes Format. Sie sind Beispiele dafür, wie Gott auf die spezifi- schen Nöte der jeweiligen Zeit geantwortet hat und Menschen bereit waren, seine Gnade durch ihre Gebrechlichkeit hindurch leuchten zu lassen. Damit können sie auch uns Mut und Zuversicht geben. Bezeu- gen sie doch auch, dass die Welt nicht so dunkel ist, wie es manchmal scheinen mag. Allerheiligen ist also kein katholisches Hochleistungsfest oder Helden- gedenken. Es kündet vielmehr vom segensreichen Wirken der Gnade 68

Gottes unter uns Menschen. Von Gott beschenkt können aber auch wir barmherzig sein, unseren Hunger und Durst nach Gerechtigkeit wach- halten, uns einmischen, wo Unrecht geschieht, zum Frieden beitragen und auf Grund der Hoffnung, die uns erfüllt, andere trösten. Auf diese Weise nach Heiligkeit zu streben, kann man nicht anordnen oder erzwingen. Davon kann man sich nur überzeugen oder begeistern lassen. Wer aber versucht, so zu leben, durchbricht den Kreislauf des Bösen durch Liebe, die Spirale der Gewalt durch Frieden, die Hoffnungs- losigkeit durch Zuversicht. Wer sich darauf einlässt, wird erfahren, dass dadurch unsere Welt tatsächlich ein wenig wärmer, freundlicher und menschlicher werden kann. Könnte das nicht glücklicher machen, als sich nur den gängigen Maßstäben anzupassen und mit dem Strom zu schwimmen? Der Übertragungswagen des Deutschlandfunks vor der Kathedrale in Magdeburg 69

„Fürchtet euch nicht!“ Predigt zur Christnacht 2020 „Fürchtet euch nicht“! Mit diesen Worten kündigen die Engel im Weih- nachtsevangelium die Geburt Jesu an. „Fürchte dich nicht!“ So klang es auch schon Monate zuvor, als der Engel Gabriel Maria die Botschaft überbrachte, wozu Gott sie erwählt hat. Auf dem Hintergrund der Corona-Pandemie hören wir diesen Ruf heut- zutage wohl noch einmal auf eine ganz besondere Weise. Wir müssen nicht, wie im Märchen „von einem, der auszog, um das Fürchten zu lernen“, dazu erst noch etwas unternehmen. Viele von uns sind bereits verunsichert, fürchten sich und haben Angst davor, infiziert zu werden oder andere anzustecken, zu vereinsamen oder sozial abzusteigen, viel- leicht sogar zu sterben. Furcht entsteht – genaugenommen –, wenn es eine konkrete Bedrohung gibt, die man benennen kann. Angst hingegen tritt in Situationen auf, die eher unüberschaubar sind und irgendwie gefährlich wirken, kann dann aber sogar zu einer existentiellen Krise führen: zu einem andau- ernden Gefühl der Unbehaustheit und Verlorenheit, zu einem völligen Verlust an Sinn und Zukunftshoffnung. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird jedoch zwischen Furcht und Angst zumeist nicht unterschieden. Furcht und Angst konnten Menschen auch davor haben, als sterbliche Wesen göttlichen Mächten und Gewalten oder dem einen unbegreifli- chen Gott zu begegnen: in Gewitter und Sturm oder Feuer und Beben. Vor lauter Schrecken wären sie – wovon oftmals in der Bibel die Rede ist – am liebsten davongelaufen. So wird es verständlich, wenn der Überlieferung nach himmlische Boten Menschen immer erst zurufen: „Fürchte dich nicht!“ oder „Fürchtet euch nicht!“ Damit soll ausgedrückt werden: „Gott meint es gut mit dir, er ist an deiner Seite, du brauchst nicht wegzulaufen, du kannst dich auf ihn verlassen“. Und das – so meine ich – passt auch genau in unsere derzeitige Situati- on hinein. Mag es sich um eine konkrete Furcht vor Ansteckung handeln 70

oder um eine tiefe Existenzangst, die das Virus ausgelöst hat, Gott will uns nahe sein und uns in allen Nöten und Schwierigkeiten beistehen. Dazu ist er Mensch geworden. Bemerkenswerterweise sagt der Engel aber nicht: „Ihr dürft jetzt keine Angst mehr haben!“ oder „Euch sind alle Sorgen abgenommen!“, son- dern: „Richtet euren Blick auf Gott! Lasst euch von eurer Angst und eu- rer Furcht nicht lähmen, denn es gibt einen Grund zur Freude: das Kind in der Krippe!“ Es ist eine Freude mitten in aller Gefahr, die dieses Kind auch selbst vom ersten Moment an erlebt hat. Ja, liebe Schwestern und Brüder, auch dieses Jahr ist Weihnachten, fei- ern wir die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth. Mehr denn je dürfen wir uns an der Krippe festhalten und uns von diesem kleinen, verletzlichen Kind stärken lassen. Von ihm geht ein Licht aus, das bis in die dunkelsten Winkel unseres Lebens leuchten kann. Es kann uns helfen, unserer Furcht und unserer Angst ins Auge zu blicken und sie gerade so zu entmachten. Zur beliebten Magdeburger Lichterwelt gehören nun auch die Heiligen Drei Könige vor der Kathe- drale St. Sebastian 71

„Der Sieg über die Angst aber entscheidet sich in der Wirklichkeit, im Handeln mitten in den Ängsten“. Aktuell heißt das, mit Vernunft und Weitsicht die Risiken abzuwägen und sich und andere nicht unnötig zu gefährden. Aus der biologischen Forschung ist z.B. bekannt, dass Indi- viduen besser überleben, die in Gefahren furchtsam reagieren und be- stimmte Verhaltensweisen meiden. Auf der anderen Seite vertrauen wir auf einen Gott, der uns sogar in der Gefahr nahe ist, auf den wir uns im Leben und auch im Sterben verlassen können. Um das zu verinnerlichen, ist es wichtig, immer wieder einmal aus der täglichen Flut der Infor- mationen auszusteigen und sich Impulsen auszusetzen, die der Seele guttun: einem Spaziergang in der Natur, dem Hören von Musik oder dem Kontakt zu Menschen, die uns brauchen oder bereichern können. Denn auch jetzt sollten wir – bei aller Vorsicht und unter Beachtung der geltenden Regeln – nach Möglichkeiten suchen, wie wir die Nähe Gottes trotz vieler Einschränkungen dennoch untereinander ausdrücken können: analog oder digital, per Post oder Telefon oder wie auch immer. Der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Entscheidend ist, dass wir empfindsam und liebevoll versuchen, einander zu zeigen: Ich bin auch jetzt für dich da. Dann wird Weihnachten konkret. Dann leben wir auch heute aus der Botschaft dieser Tage. Karl Rahner hat diese Botschaft in einem wunderbaren Weihnachtstext einmal so zusammengefasst: „Gott hat sein letztes, tiefstes, schönstes Wort im fleischgewordenen Wort in unsere Welt hinein gesagt. Und dieses Wort heißt: Ich liebe dich, du Welt, du Mensch. Ich bin da: Ich bin bei dir. Ich bin deine Zeit. Ich weine deine Tränen […] Ich bin deine Freude […] Ich bin in deiner Angst, denn ich habe sie mitgelitten […] Seit ich euer Bruder wurde, seid ihr mir so nahe, wie ich mir selber bin. […] Eure wahre Zukunft ist meine Gegenwart, die heute begonnen hat und nie mehr Vergangenheit wird“. In diesem Sinn wünsche ich Ihnen allen eine gnadenreiche Weihnachts- zeit. Lassen Sie sich von den äußeren Umständen nicht den Blick auf die eigentliche Botschaft verdunkeln. Vertrauen Sie darauf, dass Gott auch Ihnen nahe sein will. So können wir vielleicht gemeinsam Furcht und Angst überwinden, Trost und Freude vermitteln, mit Hoffnung und Zuversicht unseren Weg weitergehen und damit auch zum Segen für andere werden. 72

„Wir lassen bei der Abendmahlsfrage nicht locker“ Interview von Susanna Haverkamp für die Zeitungen der Verlagsgruppe Kirchenpresse vom 10. Januar 2021 Haverkamp: Bischof Feige, Sie hatten im Dezember einige ökumenische Konferenzen. Was meinen Sie: Wie ist die ökumenische Großwetterlage? Feige: Das ist tatsächlich schwierig zu beantworten, denn die Ökumene ist komplex und kompliziert. Es gibt Unterschiede zwischen offiziell und inoffiziell, national und international, amtlich und persönlich, theolo- gisch und pastoral. Aber wenn ich es zusammenfassen soll, würde ich sagen: Insgesamt gab es schon einmal erfreulichere Phasen. Haverkamp: Was ist denn im Moment weniger erfreulich? Feige: Wenn wir mal das Verhältnis zur Orthodoxie nehmen: Da gab es vor Jahren, als etwa 2006 der theologische Dialog zwischen uns wieder aufgenommen wurde, hoffnungsvolle Aufbrüche. Das ist jetzt viel schwieriger durch die Spannungen zwischen den orthodoxen Kirchen, etwa durch den Ukraine-Konflikt. Nun könnte man sagen: Was gehen uns innerorthodoxe Konflikte an? Aber sie belasten das katholisch- orthodoxe Verhältnis schon stark. Haverkamp: Erfreulich ist hingegen, dass Papst Franziskus gerade in einer neuen Verlautbarung die Bedeutung der Ökumene gestärkt hat. Feige: Ja. Das ökumenische Vademecum des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit, das mit Zustimmung des Papstes veröffentlicht wurde, stellt deutlich heraus, dass Ökumene nicht nur irgendein kleiner Teilbereich ist, sondern ein wesentlicher Auftrag für die Kirche und be- sonders für die Bischöfe. Das ist weltweit ein wichtiges Zeichen. Ich bin dankbar, dass für die Kirche in Deutschland das alles ziemlich selbstver- ständlich ist. Heiße Eisen werden in dem Text allerdings nicht angefasst. Haverkamp: Heiße Eisen wie etwa die gegenseitige Einladung von Ka- tholiken und Protestanten zum Abendmahl, in Deutschland wahrschein- 73

lich der ökumenische Aufreger des vergangenen Jahres. Hat die Debatte das Verhältnis der Kirchen belastet? Feige: Nein, das würde ich nicht sagen. Wir haben kurz vor Weihnach- ten bei dem Kontaktgespräch zwischen der Deutschen Bischofskonfe- renz und dem Rat der EKD natürlich auch darüber gesprochen. Klar ist, dass wir das Votum des Ökumenischen Arbeitskreises, dass eine gegen- seitige Einladung schon jetzt möglich ist, gemeinsam würdigen, dass wir Fortschritte sehen. Klar ist aber auch, dass wir noch Fragen haben und dass wir im Detail unterschiedliche Positionen einnehmen. Haverkamp: Was heißt das konkret? Feige: Für die Kirchen der EKD stellt es kein Problem dar, katholische Christen in ihren Gottesdiensten zum Abendmahl einzuladen. Wir kön- nen das umgekehrt nicht, jedenfalls nicht offiziell und generell. Aller- dings sehen wir als katholische Kirche in Deutschland durchaus Spiel- raum für die persönliche Gewissensentscheidung des Einzelnen. Anders als das das römische Papier angedeutet hat. Haverkamp: Kann es sein, dass Ihre evangelischen Partner manchmal etwas Mitleid mit Ihnen haben, was die innerkatholischen Konflikte an- geht? Feige: Ja, das könnte man vielleicht so sagen. Wir Bischöfe nehmen das auch nicht einfach cool hin, wenn solche Einsprüche aus Rom kommen. Und das spüren die evangelischen Partnerinnen und Partner auch. Wir Bischof Dr. Gerhard Feige am Lettner zur 500 Jahrfeier der Vollendung des Magdeburger Doms 74

gehen in unseren Gesprächen sehr einfühlsam miteinander um. Da gibt es keinen persönlichen Schlagabtausch, sondern großes Verständnis für die Probleme der anderen. Haverkamp: Sehen Sie für das kommende Jahr Perspektiven in der Abendmahlsfrage? Feige: Was offizielle Entscheidungen angeht, nicht unbedingt. Aber wir lassen bei der Frage nicht locker. Wir überlegen zum Beispiel, bei einem Studientag die unterschiedlichen Positionen zu diskutieren. Und auch der Ökumenische Arbeitskreis wird eine Entgegnung auf die römischen Einsprüche formulieren. Das Thema ist weiter akut und drängt zu sen- siblen Lösungen. Haverkamp: Ist die Basis noch viel ungeduldiger, als die Bischöfe es sind? Feige: Ja, ich glaube schon, dass die Basis noch enttäuschter ist, wenn solche Signale kommen. Andererseits müssen wir auch sehen, dass die Basis durchaus gemischt ist. Es gibt diejenigen, die ökumenisch sehr bewegt sind und denen das alles nicht schnell genug geht. Es gibt aber auch diejenigen, die das ganz anders sehen. Und ich als Bischof muss beides wahrnehmen und kann mich nicht nur auf eine Seite schlagen. Haverkamp: Sie haben angesprochen, dass die katholische und die evangelische Kirche in der Abendmahlsfrage unterschiedliche Positionen haben. Die haben sie aber auch bei anderen Themen. Für Irritationen hat im Herbst die Aussage des hannoverschen Landesbischofs Ralf Meister gesorgt, dass aktive Sterbehilfe auch in kirchlichen Einrichtungen mög- lich sein müsse. Wie einig sind sich die Kirchen in Sachen Bioethik? Feige: Im Grundsatz sehr einig. Das hat schon vor Jahren eine gemein- same Studie herausgestellt. In unserem Menschenbild und in unserer Verwiesenheit auf Gott gibt es keine großen Unterschiede. Abweichun- gen gibt es aber in Einzelfragen. Theologen nennen das einen begrenz- ten Dissens. Haverkamp: Aber die Frage, ob aktive Sternehilfe geleistet wird oder nicht, ist doch kein ganz kleiner Dissens. 75

Feige: Nein, dieser Dissens hat tatsächlich gravierende Folgen. Aber man muss auch sehen, dass das nicht die Position der evangelischen Kirche insgesamt ist. Es ist eine Stimme in einer ganzen Palette von Meinungen. Und wir stimmen auch völlig darin überein, dass die Su- izidprävention und die Palliativversorgung ausgebaut werden müssen und dass kein gesellschaftliches Klima entstehen darf, in dem aktive Sterbehilfe eine normale Dienstleistung wird. Haverkamp: Sind die Meinungsverschiedenheiten also halb so schlimm? Feige: Nicht in dem Sinne, als ob das eine Bagatelle wäre. Aber manche Kritiker sehen jetzt gleich die ganze Ökumene in Gefahr oder betrachten die Frage als Testfall für die Glaubwürdigkeit der Ökumene. Und da sage ich: Wir sollten nüchtern bleiben. Es gibt einen begrenzten Dissens, ja, und der wird auch nicht unter den Teppich gekehrt. Aber es gibt sehr viel mehr Gemeinsamkeiten – und die Unterschiede laufen oft quer durch die Konfessionen. Haverkamp: Gemeinsam betroffen sind die Kirchen von der Corona- Krise. Gemeinsam wurden sie gerade im Frühjahr auch kritisiert. Hat die Krise die Ökumene gestärkt? Feige: Zumindest haben sich viele ökumenische Kontakte bewährt und zu verschiedenen gemeinsamen Aktionen geführt. Ich denke zum Bei- spiel an das Gemeinsame Wort von evangelischer, katholischer und or- thodoxer Kirche Ende März, als alle Gottesdienste verboten waren. Oder dass es in der Osternacht erstmals überhaupt ein ökumenisches „Wort zum Sonntag“ im Fernsehen gab. Oder das ökumenische Glockenläuten rund um Ostern. Oder die gemeinsame Aktion „Gott bei euch“ zu Weih- nachten. Überhaupt waren zu Weihnachten viele ökumenische Krippen- feiern oder andere Gottesdienste geplant – die dann aber leider meist abgesagt werden mussten. Haverkamp: Und dann wurde es doch eher konfessionell. Feige: Ja, aufgrund der zahlenmäßigen Beschränkungen haben sich die meisten Gemeinden dann doch eher in ihre eigene Kirche zurückge- zogen. Aber als Live-Stream gab es doch einige ökumenische Feiern – ich würde sagen: mehr als sonst an Weihnachten. Und übrigens haben 76

Landesbischof Friedrich Kramer (EKM) und Bischof Dr. Gerhard Feige bei einer gemeinsamen Pressekonferenz erstmals auch Adveniat und Brot für die Welt gemeinsam zu Spenden aufgerufen. Insgesamt würde ich sagen, dass die Kirchen und die Chris- ten sich in all den Einschränkungen sehr ökumenisch verbunden gefühlt haben. Haverkamp: Blicken wir in die Zukunft. Das öffentliche Bild der Öku- mene war ja lange geprägt von dem bayerischen Dreamteam Marx/Bed- ford-Strohm. Der Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz hat schon gewechselt, Heinrich Bedford-Strohm tritt in diesem Jahr nicht mehr wieder an für den EKD-Vorsitz. Was erwarten Sie für das gerade begon- nene Jahr? Feige: Ich bin sehr zuversichtlich, dass es weiter vorangeht. Natürlich sind Personen wichtig, besonders, wenn sie in der Öffentlichkeit stehen. Aber Georg Bätzing ist genauso ökumenisch engagiert wie sein Vorgän- ger Reinhard Marx. Und auch wenn wir nicht wissen, wer neuer Rats- vorsitzender der EKD wird, habe ich da keinerlei Bedenken. Die Ökumene ist von den Gemeinden vor Ort bis zu den Bischöfen auf so breiter Ebene fest verwurzelt, dass es gut weitergehen wird. Haverkamp: Obwohl der Höhepunkt, der Ökumenische Kirchentag in Frankfurt nicht wie geplant stattfinden kann. Wie sehr bedauern Sie das? 77

Feige: Natürlich sehr – wobei wir aber immer noch davon ausgehen, dass er nicht völlig ausfallen muss. Der Kirchentag ist ja eine Art ökume- nischer Gradmesser. Der erste, 2003 in Berlin, war ein echter Aufbruch. Der zweite, 2010 in München, war einerseits sehr verregnet, aber wenn ich an die Brotsegnung zurückdenke: Das war ein sehr großes ökume- nisches Zeichen. Andererseits muss man sagen: Die Zahl derer, die sich bei einem solchen Fest begeistern lassen, ist begrenzt, selbst, wenn es 100.000 sind. Die Ökumene wird weitergehen, so oder so. Zumal wir besonders durch die ökumenischen Feiern rund um das Reformations- jubiläum 2017 zu einem wirklich stabilen Miteinander gefunden haben. Haverkamp: Zu Beginn unseres Gesprächs haben Sie gesagt: Es gab schon erfreulichere Phasen. Gibt es dennoch etwas, das Ihnen ganz be- sonders Freude macht? Feige: Tatsächlich ein internationaler katholisch-orthodoxer Arbeits- kreis, der vom Johann-Adam-Möhler-Institut in Paderborn ins Leben gerufen worden ist und den Namen des heiligen Irenäus von Lyon trägt. Dort treffen sich inoffizielle Vertreter beider Kirchen und diskutieren sehr intensiv über theologische Fragen. Ich sage es mal so: Da wird gedacht, nicht nur verfochten – und es macht mir viel Spaß, inten- siv nachzudenken und dabei die anderen, aber auch sich selbst, besser kennenzulernen. Besonders froh bin ich natürlich auch über die hervor- ragenden evangelisch-katholischen Beziehungen in unserer mitteldeut- schen Region. Haverkamp: Fehlt Ihnen das sonst? Feige: Ja, manchmal fehlt mir das in anderen Zusammenhängen: dieses intensive Nachdenken, bevor man vorschnell irgendwelche Meinungen verteidigt. Der tschechische Theologe Tomáš Halík hat kürzlich geschrie- ben: „Ein halbes Jahrhundert meines Lebens habe ich den großen Traum geträumt von der Vereinigung aller, die an Christus glauben. Heute hat sich dieser Traum von mir in Luft aufgelöst.“ Schuld daran, sagt Halík, ist, dass es auch unter Christen viel zu viele Fundamentalisten und Fa- natiker gibt. Und er sagt – und zitiert damit Kardinal Martini: „Ich habe keine Angst vor Menschen, die nicht glauben, sondern vor Menschen, die nicht denken.“ Das sehe ich auch als Zukunftsaufgabe: eine Koaliti- on aller denkenden Menschen, egal ob sie Christen sind oder nicht. 78

Der Besuch von Bischof Dr. Gerhard Feige zur Ordination evangelischer Pfarrer und Pfarrerinnen im Dom zu Magdeburg ist Tradition geworden Von der Vision Karls des Großen und heutigen Herausforderungen Predigt beim „Karlsamt“ am 30. Januar 2021 im Kaiserdom St. Bartholomäus in Frankfurt am Main 1. Jesus beginnt – wie wir es soeben im Markusevangelium (1, 21-28) gehört haben – sein öffentliches Wirken mit einem Paukenschlag. Ei- gentlich tut er nur das, wozu jeder männliche Israelit befugt war: Er legt in der Synagoge die Schrift aus. Die Wirkung seiner Worte ist aber so ungeheuerlich, dass die Leute geradezu – wie man auch übersetzen kann – erschaudern. Er lehrt sie nämlich „wie einer, der Vollmacht hat“ (1, 22), authentischer als die Schriftgelehrten, wie einer, durch den Gott offensichtlich selbst zu Wort kommt. Deshalb sehen sie in ihm auch den Propheten, den Mose angekündigt hatte. Aber es geht noch weiter. Das Wort Jesu ist nicht nur prophetisch, sondern bewirkt, was es sagt. Der „unreine Geist“ wird zum Verstummen gebracht und sogar ausgetrieben. Das mag für unsere heutigen Ohren fremd klingen und an okkulte Prak- tiken erinnern. Was in der Sprache des damaligen Weltbildes ausge- drückt wurde, ist uns aber in der Sache durchaus erschreckend nahe. Eigentlich hätten die Menschen durch die voranschreitende Aufklärung 79

immer freier, vernünftiger und gerechter werden müssen. Stattdessen aber gibt es nach wie vor offenbar unheilvolle Mächte und Gewalten, die einflussreicher sind und dazu beitragen, dass Menschen sich selbst entfremden. Eindrücklich hat sich dies in der Zeit des Nationalsozialis- mus verdichtet, aber auch unter kommunistischer Herrschaft oder in anderen Diktaturen. Doch wir brauchen gar nicht so weit in die Ge- schichte zurückzugehen. Der Sturm auf das Kapitol in Washington stellt uns ernüchternd vor Augen, wozu sich auch Zeitgenossen hinreißen las- sen können. Und selbst bei uns verschärfen sich die Spannungen, wer- den gerade in den sogenannten sozialen Medien zunehmend irrationale Empörungswellen und Hasslawinen ausgelöst, erstarken rechtsextreme und populistische Gruppierungen. . Das betrifft auch Europa insgesamt. Schon seit längerem haben Ressen- timents und Abgrenzungen wieder zugenommen, sind Eigeninteressen wichtiger als der Sinn für Solidarität, wird das Zusammenleben immer schwieriger, steht das Gemeinwohl auf dem Spiel. Feindbilder und Ver- schwörungstheorien gehören dazu, Verachtung und Hetze. Nächstenlie- be wird immer mehr zum Fremdwort und Menschenfeindlichkeit gesell- schaftsfähig. Es ist – wie Papst Franziskus in seiner Rede zum Empfang des Karlspreises im Jahr 2016 sagte – „ein Europa, das versucht ist, eher Räume zu sichern und zu beherrschen, als Inklusions- und Transforma- tionsprozesse hervorzubringen“. Derzeit kommt mir dies vor allem auch im Umgang mit Flüchtlingen so entgegen. Das inzwischen abgebrannte Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist ein zutiefst beschä- mendes Zeichen. Und dass derzeit unzählige Menschen in Bosnien bei eisiger Kälte ihrem Schicksal überlassen sind oder andere weiterhin im Mittelmeer ertrinken, ist ein nicht hinzunehmender Skandal. 2. Da könnte es hilfreich sein, sich wieder einmal der Vision zu vergewis- sern, die Karl der Große zu verwirklichen suchte: der Vision einer univer- salen politischen Ordnung, deren Früchte allen Völkern seines Reiches zugutekommen sollten. Zur ganzen Wirklichkeit seines Vielvölkerstaates, aus dem sich das christliche Abendland entwickelte, gehört es jedoch auch, dass Spannungen zu Byzanz mit seinem römischen Kaisertum und dessen Absolutheitsanspruch nicht ausblieben und das christliche Mor- genland verständlicherweise weiterhin seine eigenen Wege ging. Zudem 80

Bischof Dr. Gerhard Feige bei der Predigt zum Karlsamt im Kaiserdom zu Frankfurt kann nicht verschwiegen werden, dass Karl sein Reich nur durch eine rücksichtslose Machtpolitik aufgebaut hat. Dennoch kann seine Vision uns anregen, nationale Engführungen zu überwinden und eine größere Gemeinsamkeit zu suchen, die zukunftsträchtiger und menschenfreund- licher wäre als die bisherigen Beziehungen. Von seinen Ursprüngen und Idealen her ist Europa ja in der Tat nicht nur ein Wirtschaftsverbund, sondern ebenso eine Kultur- und Wertege- meinschaft. Und das jüdisch-christliche Erbe ist es, das diesen unseren Kontinent entscheidend geprägt hat. Fast überall begegnen uns solche Spuren in Architektur, Musik und bildenden Künsten, in Literatur und Sprache, in Denkweisen und Verhaltensmustern. Was wäre Europa au- ßerdem ohne das beeindruckende Zeugnis von Heiligen wie zum Beispiel Benedikt von Nursia oder Cyrill und Methodius, Franziskus von Assi- si und Elisabeth von Thüringen oder auch Maximilian Kolbe und Edith Stein? Freilich darf nicht verschwiegen werden, dass vieles am Christentum auch sehr irdisch ist und Menschen schwer enttäuschen kann. Immer wieder stellen Versagen und Sünde, ja sogar Skandale und Verbrechen unsere Glaubwürdigkeit in Frage. Aktuell gehören vor allem der sexu- elle Missbrauch Minderjähriger und mancher willkürliche Umgang mit Macht dazu. Da sind – weil wir gerade ein so edles Bild vom Men- 81

schen haben und hohe moralische Ansprüche vertreten – Transparenz und Bekehrung vonnöten, Buße und Erneuerung! Schließlich war und ist der liebevolle Dienst am Nächsten schon von Anfang an ein besonderes Markenzeichen des Christentums, die bedingungslose Zuwendung zu den Schwachen, Armen und Ausgegrenzten, zu denen, die auf beschä- mende Weise ihrer Würde und Freiheit beraubt sind. 3. Und damit sind wir wieder beim heutigen Evangelium. Jesus beginnt sein öffentliches Wirken damit, dass er einen Menschen aus dem Bann- kreis des Bösen befreit und ihm seine Würde und Freiheit zurückgibt. Sein Leben lang identifiziert er sich mit denen, die an inneren oder äu- ßeren Nöten leiden. Und genau dazu ruft er die auf, die sich auf ihn beziehen. Ja, mehr noch: Wer sich in Liebe solchen Menschen zuwendet, begegnet ihm selbst. Damit heißt der Weg Jesu Christi ganz einfach ‚Für‘, immer wieder zu versuchen, für andere zu leben. „Überall da, wo dieses Gesetz des ‚Für’ über uns Gewalt gewonnen hat, sind wir der Macht des ‚bösen Geistes‘ entzogen.“ Davon waren nach dem Zwei- ten Weltkrieg schon die Gründerväter der heutigen Europäischen Union überzeugt. Am Ursprung ihrer Idee stand nämlich „die Gestalt und die Verantwortlichkeit der menschlichen Person samt dem Ferment einer im Evangelium gegründeten Brüderlichkeit, […] mit ihrem Willen zur Wahrheit und zur Gerechtigkeit, der von einer tausendjährigen Erfah- rung geschärft wurde“. Angesichts der aktuellen Herausforderungen hat für uns Christen da ein solidarisches Handeln größte Bedeutung, besonders in der weltweiten Krise, die die Corona-Pandemie ausgelöst hat, und beim Thema Migration. Aber auch in anderen Bereichen gilt es, für Werte einzustehen, die zu einem Leben in Freiheit dazugehören: die unbedingte Achtung vor der Würde jedes Menschen vom Embryo bis zum Sterbenden, für Frieden und Gerechtigkeit, Demokratie und Toleranz, Verantwortung und Solidarität, ja sogar für Barmherzigkeit und Liebe. Damit können wir auch zu Brücken der Verständigung zwischen unseren europäischen Völkern werden. Dazu gehört es ebenso, dass Europa wieder oder noch mehr lernt – wie es Papst Johannes Paul II. formuliert hat – „mit beiden Lungenflügeln zu atmen“, und das meint, sich nicht nur auf die westlichen, sondern auch auf die östlichen Traditionen zu besinnen und 82

gemeinsam daraus zu leben. Und da die gegenseitigen Entfremdungen in der Vergangenheit auch mit den verschiedenen Kirchenspaltungen zu tun haben, ist es nicht in unser Belieben gestellt, sondern weiterhin ein drängendes ökumenisches Anliegen, sich mit Herz und Verstand um noch mehr Versöhnung und Einheit zu bemühen. Liebe Schwestern und Brüder, welche Vision haben wir? Papst Johannes Paul II. hat 1982 in der Kathedrale von Santiago de Compostela den dort versammelten Pilgern etwas zugerufen, das wie in unsere heutige Situation gesprochen ist: „Ich rufe dir, altes Europa … aus voller Liebe zu: Finde wieder zu dir selbst! Sei wieder du selbst! Besinne dich auf deinen Ursprung! Belebe deine Wurzeln! Beginne wieder, jene echten Werte zu leben, die deine Geschichte ruhmreich gemacht haben, und mach deine Gegenwart in den anderen Kontinenten segensreich! Bau deine geistige Einheit wieder auf in einer Atmosphäre voller Achtung gegenüber den anderen Religionen und den echten Freiheiten! Noch immer kannst du Leuchtturm der Zivilisation und Anreiz zum Fortschritt für die Welt sein.“ Dies nach Kräften zu fördern und zu unterstützen, sollte unser Beitrag als Kirchen sein. Tun wir alles, um Europa die Seele zu schenken, die 1992 der damalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors eingefordert hat. Denn „das moderne Europa wird“ – wie auch Kardinal Walter Kasper betont – „auf die Dauer … nur Bestand haben, wenn es seine religiöse und insbesondere seine christliche Seele wieder- entdeckt“. Der Frankfurter Stadtdekan Dr. Johannes zu Eltz bei der Begrüßung. 83

Erfahrungen mit Religiösen Kinderwochen (RKW) Grußwort zum digitalen RKW-Fachtag des Bonifatiuswerkes der deutschen Katholiken am 8. Februar 2021 Sehr geehrter Monsignore Austen, sehr geehrter Herr Präsident Paus, sehr geehrte Frau Professorin Karl sowie die Herren Professoren Büssing und Loffeld, verehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses digitalen Fachtages, liebe Schwestern und Brüder, ich grüße Sie alle recht herz- lich und danke dem Bonifatiuswerk für sein – wie es auch die heutige Veranstaltung zeigt – kreatives Engagement. Erstaunlicherweise hat es die RKW als Religiöse Kinderwoche sogar ge- schafft, bei WIKIPEDIA erwähnt zu werden. Leider muss man aber zur Kenntnis nehmen, dass ihre Abkürzung nicht einzigartig oder geschützt ist und auch für anderes stehen kann: zum Beispiel für die Rheinischen Kunststoffwerke Worms oder die Rheinischen Kalksteinwerke Wülfrath, das Rationalisierungs-Kompetenzzentrum der Deutschen Wirtschaft oder das Reichsbahnkraftwerk. Aber immerhin ist ihr ein eigener Eintrag gewidmet, der sie in solider Weise beschreibt. Selbst im renommierten Lexikon für Theologie und Kirche findet sich über sie in Band 8 von 1999 ein diesbezüglicher Artikel, verfasst von Wolfgang Nastainczyk, dem 2019 verstorbenen Professor für Religionspädagogik in Regens- burg. Er beschreibt die Religiösen Kinderwochen kurz und knapp als: „Maßnahmen der katholischen Kirche in der Sowjetischen Besatzungs- zone Deutschlands bzw. in der DDR zur Ferienbetreuung von Schulkin- dern. Konzeptionell eigenständig und tendenziell regimewidrig, inhalt- lich eher traditionell ‚instruktiv‘, methodisch betrachtet eine Mischform aus freizeitpädagogischen, diakonischen, katechetischen, pastoralen und spirituellen Elementen. … Ab 1949 von Diözesan-Caritasverbänden und Pfarrgemeinden republikweit durchgeführt“ – hier erfolgt auch ein Verweis auf das Bonifatiuswerk – „kirchenamtlich legitimiert und zentral organisiert (Planzahl schon 1951: 29.300 Kinder; in ostdeut- schen Bistümern bis heute verbreitete Angebote …“. Eine Übernahme des RKW-Modells durch einige westdeutsche Gemeinden wird hier noch nicht erwähnt. 84

RKW in Roßbach 2019 Als jahrzehntelangem Zeitzeugen fällt mir zu diesem Thema freilich noch mehr ein. Viele persönliche Erinnerungen – zumeist an besondere Erfahrungen oder markante Details – sind nicht vergessen und können jederzeit wieder aktiviert werden. Formal betrachtet kann ich mein Ver- hältnis zu den RKW in vier verschiedenen Rollen beschreiben: als teil- nehmendes Schulkind, als jugendlicher oder studentischer Helfer, als priesterlicher Leiter und als bischöflicher Beobachter wie Befürworter Zum ersten Mal habe ich als Achtjähriger 1960 – also vor über 60 Jah- ren – eine RKW erlebt. Eine ältere Jugendliche hat mich Tag für Tag von zuhause abgeholt und abends wieder zurückgebracht. Ich kann mich nicht erinnern, dass damals schon nach einem ausgeklügelten Konzept verfahren wurde. Vielmehr gehörte einfach jeweils eine Eucharistiefeier mit einer Katechese über einen Heiligen dazu; danach gab es Spiele und kleine Ausflüge. Abgeschlossen wurde alles durch ein großes Fest, zu dem auch die Eltern geladen waren und bei dem wir nach der gemeinsa- men Kaffeetafel eingeübte Theaterstücke vorführten. Noch heute habe ich Fotos davon. Eingeprägt hat sich auch eine Nebensächlichkeit: Aller zwei Tage bekamen wir zum Frühstück oder zu einer anderen Mahlzeit Brötchen mit Marmelade und einen undefinierbaren graufarbigen Mu- ckefuck, an den anderen Tagen Butterbrötchen und Kakao. Als Jugendlicher habe ich dann bei mancher RKW in meiner Heimat- gemeinde in Halle mitgeholfen, schließlich war ich auch sonst für eine Ministrantengruppe und deren wöchentliche Treffen verantwortlich. 85

Noch anregender gestalteten sich für mich einige Religiöse Kinder- wochen während meines Theologiestudiums. Da meine Schwester in Dresden wohnte, war ich auch aus ihrer Gemeinde angefragt worden, ob ich mich nicht ebenso dort einbringen könnte. Da die betreffenden Ortsgeistlichen schon älter waren, hatten sie die Leitung der RKW ei- nem jungen dynamischen Jesuitenpater anvertraut. Er war so engagiert, dass ihm manche den Spitznamen „Pastoralfaschist“ gaben. Er hat diese Wochen generalstabsmäßig geplant, organisiert und durchgeführt. Früh und abends fanden in der Runde aller Mitglieder des Teams – dazu ge- hörten auch angehende Kindergärtnerinnen und Gemeindereferentin- nen – intensive Beratungen statt. In diesen Wochen habe ich unheim- lich viel gelernt. In besonderer Erinnerung ist mir ein Stadtgeländespiel mit bestimmten Aufgaben und örtlich verteilten Personen. Als der Pater krankheitsbedingt kurz vor Beginn der RKW in einem Jahr ausfiel, muss- te ich die Leitung übernehmen. Es war aber alles schon minutiös vorbe- reitet worden, so dass ich mich darauf einlassen konnte. Nach meiner Priesterweihe 1978 gehörte es als Vikar in Salzwedel selbstverständlich dazu, Religiöse Kinderwochen durchzuführen. Wäh- rend der Pfarrer sich um die Kinder der 1.-5. Klasse kümmerte, waren mir die Schülerinnen und Schüler der 6.-8. Klasse anvertraut. Mit ih- nen habe ich mich zweimal auf Reisen begeben, einmal zum Zelten in den Harz bei Thale und im nächsten Jahr in ein Pfarrhaus in Werder bei Potsdam. Dabei konnte ich auf engagierte junge Erwachsene bauen, die alles mitgestaltet und sogar gekocht haben. Freilich ließen die Rah- Erinnerungen an eine RKW im Jahr 1960, an der Gerhard Feige teilgenommen hat. 86

menbedingungen zu wünschen übrig, aber das wurde damals in Kauf genommen und trübte die Atmosphäre in keiner Weise. So campierten wir beim ersten Mal auf dem Privatgrundstück eines Pfarrers, die Zelte hatten noch keinen Boden, und zum Waschen gingen die meisten an den nahegelegenen Bach. Dramatisch wurde es auch einmal, als über Nacht plötzlich zwei Drittel der Kinder sich übergeben mussten. Da wir ja gewissermaßen illegal zelteten, sah ich mich, falls dies irgendwelche Behörden erfahren sollten, schon fast hinter Gittern. Hierbei aber halfen uns innerkatholische Beziehungen. Über den Vikar einer anderen Pfarrei bekamen wir vertraulichen Kontakt zu einer Gemeindeschwester. Sie gab uns einige Ratschläge, wie wir verfahren sollten, und versicherte uns aufgrund unserer Beschreibungen, dass es sich um keine Lebensmit- telvergiftung handele. Erfreulicherweise war nach einem Tag der Spuk auch schon wieder vorbei. So etwas aber merkt man sich. Übrigens fin- det sich heute noch eines der RKW-Lieder jener Zeit im Regionalteil der ostdeutschen Bistümer unseres Gotteslobes, Nr. 704: „Du hast uns Herr gerufen …“ An meiner zweiten Vikarsstelle in Magdeburg-Sudenburg erlebte ich dann noch eine äußerst professionelle RKW. Sie stand unter der Leitung des dortigen Ständigen Diakons. Dazu fuhr man schon jahrelang im- mer wieder an denselben Ort, nach Kreuzebra im katholischen Eichsfeld. Alles war eingeübt und lief wie am Schnürchen. Ein großes Team von Erwachsenen und Jugendlichen war einbezogen. Seit ich Weihbischof und dann Bischof wurde, ergeben sich für mich Berührungspunkte zu den Religiösen Kinderwochen vor allem durch un- sere Kinderwallfahrten. Schon lange ist es in unserem Bistum üblich, am Beginn der Sommerferien dezentral an vier – seit kurzem noch drei – Orten zu Kinderwallfahrten einzuladen. Diese gehören für die meisten Pfarreien mit in das Programm ihrer RKW und beziehen sich thematisch auch auf deren Motto. Auch diese Kinderwallfahrten lebten und leben vom großartigen Engagement eines Teams von Haupt- und Ehrenamt- lichen mit dem Leiter der Arbeitsstelle für Kinderpastoral an der Spitze sowie Schülerinnen und Schülern. Mit viel Eifer werden Jahr für Jahr der Gottesdienst, das Zwischenprogramm und ein Theaterstück vorbereitet und gestaltet. Immer wieder ist es faszinierend, wie die Gruppe zusam- menwächst und Freude daran findet, sich aktiv einzubringen. In den letzten Jahren – und das betrifft die RKW ebenso wie die Kinderwall- 87

fahrten – kommen inzwischen neben den katholischen Kindern auch evangelische und konfessionslose Kinder mit dazu. Zudem ist meinem Eindruck nach der Altersdurchschnitt jünger geworden, d.h. dass auch Vorschulkinder schon mitkommen. Leider hat die Zahl der an den Kin- derwallfahrten teilnehmenden Kinder insgesamt seit 1990 abgenom- men. Eine Ursache dafür ist, dass verschiedene Pfarreien ihre RKW nicht mehr auf dem Territorium des Bistums, sondern in anderen Regionen Deutschlands veranstalten. Von dort aber ist es für sie zu weit, einen unserer Wallfahrtsorte aufzusuchen. Nach wie vor halte ich die Religiösen Kinderwochen für eine geeignete Möglichkeit, Kindern nicht nur etwas katechetisch zu vermitteln, son- dern auch beispielhaft einzuüben, was es heißt, ganzheitlich aus dem Glauben heraus zu leben und menschenfreundlich miteinander umzu- gehen. Und das betrifft nicht nur die Kinder, sondern auch die ehren- amtlichen Jugendlichen und Erwachsenen, die sich in diesen Tagen mit einbringen. Hier könnte besonders zum Ausdruck kommen, welche Be- deutung das Evangelium für den Alltag hat und wie Christen gemein- sam Kirche sind. Gerade in einer extremen Minderheitensituation und in Zeiten, in denen die Individualisierung immer mehr zunimmt, kann eine solche Form zur Bildung von Gemeinschaft einen wichtigen Beitrag leisten. Ohne dass die Eltern freilich dafür ein Interesse haben, kann so etwas nicht gelingen. Und dann ist alles auch nur ein Versuch. Welche Auswirkungen Religiöse Kinderwochen haben, lässt sich letztlich nicht erfassen. Sie sind ein Dienst an den Kindern und kein kirchliches Rek- rutierungsprogramm. Ob bei vielen etwas zündet, was ein Leben lang durchträgt, oder vielleicht nur – bzw. immerhin – eine positive Erfah- rung von Kirche in Erinnerung bleibt, entzieht sich genauso wie beim Religionsunterricht und der Katechese oder der Ministranten- und Ju- gendarbeit unserer Kontrolle. Als die Absicht bekannt wurde, die Religiösen Kinderwochen zu evaluie- ren, befürchteten manche, dass diese wohl abgewickelt werden sollen. Auch wenn ich diese Sorge so nicht geteilt habe, bin ich doch gespannt, zu welchen Ergebnissen die vom Bonifatiuswerk in Auftrag gegebene Studie kommt und welche Anregungen sich aus dem heutigen Fachtag für unseren weiteren Weg ergeben. 88

Von Leben und Tod Brief des Bischofs von Magdeburg zur österlichen Bußzeit 2021 Liebe Schwestern und Brüder! „Früher“ – so beschreibt es die Autorin eines Buches mit dem bezeichnenden Titel „Das Leben als letzte Gele- genheit“ – lebten die Menschen „40 Jahre plus ewig“, und „heute leben sie nur noch 90 Jahre“. Die Hoffnung auf ein Leben über den Tod hinaus scheint vielen abhandengekommen zu sein. Damit beschränkt sich das „Leben in Fülle“, für das Jesus Christus in die Welt gekommen ist, nur noch darauf, das irdische Leben so gut es geht zu nutzen und zu genie- ßen. Der Gedanke an den Tod wird dabei bis zuletzt hinausgeschoben oder völlig unterdrückt. Seit einiger Zeit drängt er sich aber wieder mit Macht in das Bewusst- sein der Gesellschaft. Die Bilder von den gestapelten Särgen in Bergamo wie inzwischen auch mancherorts in Deutschland und das Sterben un- zähliger älterer Menschen in den Pflegeheimen lassen sich kaum noch ausblenden. Fast jeder und jede von uns kennt inzwischen Personen, die an der Folge einer Infektion mit dem Coronavirus gestorben sind. Und immer neu wird uns vor Augen geführt, wie zerbrechlich unser eigenes Leben ist. Während darum zurzeit unzählige Aktivitäten darauf ausgerichtet sind, möglichst viele Menschen, die aufgrund von Alter oder anderen Risiken durch das Corona-Virus bedroht sind, zu retten, ist fast in Vergessenheit geraten, wie sehr andererseits das Ende des Lebens massiv angetastet wird. Genau vor einem Jahr hat das Bundesverfassungsgericht das bis- her geltende Verbot organisierter Hilfe beim Suizid gekippt. Das Gesetz – so urteilten die Karlsruher Richter – sei verfassungswidrig, weil es das allgemeine Persönlichkeitsrecht einschränke. Heftige Debatten haben dabei inzwischen einige Vertreter der evangelischen Kirche ausgelöst, die eine ärztliche Assistenz bei einem Suizid unter bestimmten Bedin- gungen sogar für einen „Akt der Barmherzigkeit“ halten und vorschla- gen, dass organisierte Sterbehilfe deshalb auch in kirchlichen Einrich- tungen einen Platz haben sollte. Eine solche Auffassung berührt jedoch den Kern unseres christlichen Glaubens. Niemand von uns hat sich das Leben selbst gegeben. Es ist uns 89

geschenkt, letztlich von Gott. Er hat uns als seine Ebenbilder geschaffen. Damit verbindet sich eine unendliche Würde und die Freiheit, das Leben nach eigenem Willen zu gestalten. Bedeutet das aber auch, selbst über sein Ende bestimmen zu dürfen? Während bisher die Meinung verbreitet war, „dass kein Mensch über das Leben und den Tod eines Menschen verfügen darf, auch nicht der einzelne Mensch hinsichtlich seines eige- nen Sterbens“, sehen es immer mehr in unserer Gesellschaft sogar „als Ausdruck menschlicher Würde an, auch über den Zeitpunkt des eigenen Todes … entscheiden zu können“. Doch hätte dies womöglich nicht unabsehbare Konsequenzen? Promi- nente Juristinnen weisen darauf hin, „wer den assistierten Suizid befür- worte, könne die Tötung auf Verlangen kaum noch verbieten“. Zudem lässt sich eine organisierte Sterbehilfe nicht mit dem Selbstverständnis all derer vereinbaren, die medizinisch oder pflegerisch Anwälte des Le- bens sind; es gehört zu ihrem Beruf, Menschen im Sterben zu beglei- ten, nicht aber deren Tod herbeizuführen. Sollte es aber zum Normalfall werden, Menschen bei der Selbsttötung zu assistieren, würde das Ethos dieser Berufe zutiefst erschüttert. Unabsehbare Konsequenzen hat eine solche aktive Sterbehilfe aber auch für die alten und kranken Menschen selbst. Sie könnten den Ein- Geborgen und begleitet bis zum Schluss 90

druck bekommen, ihre Angehörigen und die Gesellschaft über Gebühr zu belasten, wenn sie nicht auf weitere Behandlungen verzichten. In Holland hat sich bereits gezeigt, dass Schwerkranke den Druck ihrer Umgebung sehr sensibel wahrnehmen und aus diesem Grund nach ak- tiver Sterbehilfe rufen. Oft gerät dabei auch aus dem Blickfeld, dass es bei diesem Thema in erster Linie darum gehen muss, Menschen, die zu verzweifeln drohen, ganzheitlich zu begleiten. Meistens sind es ja ganz konkrete Ängste, die den Wunsch aufkommen lassen, dem Leben ein Ende zu setzen. Da ist zum Beispiel die Angst vor unerträglichen Schmerzen, die aber mit einer guten palliativen Versorgung gelindert werden können. Andere haben Angst davor, ganz allein sterben zu müssen oder Angehörigen zur Last zu fallen. In einem Hospiz können solche Menschen aber die Erfahrung machen, geborgen und bis zuletzt liebevoll begleitet zu sein. Nicht we- nige finden dabei zu einem tiefen inneren Frieden Kirchliche Einrichtungen sollten deshalb dem derzeitigen Druck nicht nachgeben. „Vielmehr“ – so formuliert es eine Benediktinerin, die selbst ihre an Alzheimer-Demenz leidende Schwester 20 Jahre lang bis zu ih- rem Tod begleitet hat, recht eindrücklich – „muss die medizinische, pfle- gerische und vor allem seelsorgerliche Begleitung der Sterbenden und Angehörigen im Mittelpunkt stehen. […] Hier können die Kirchen ein machtvolles Zeichen setzen. An der Weise des Umgangs mit Krankheit und Tod entscheiden sich […] die grundlegenden Fragen des Mensch- seins.“ Und hier sind wir wieder mitten in der aktuellen Krise, die durch das Coronavirus ausgelöst wurde. Zum einen gilt: Kirche ist in der Nachfolge Jesu dazu da, sich ganzheitlich für das Heil des Menschen einzusetzen, nicht nur für sein seelisches, sondern auch für sein leibliches, nicht nur für sein ewiges, sondern auch für sein irdisches. Deshalb müssen wir auch alles tun, um uns selbst und vor allem die anderen zu schützen. Dabei kommen wir nicht an schmerzlichen Einschränkungen des bisher gewohnten kirchlichen Lebens vorbei. Zugleich fordert der christliche Glaube uns aber auch dazu heraus, das Leben nicht „als letzte Gelegenheit“ zu sehen, die es einfach nur aus- zuschöpfen gilt. „Ein grober Fehler“ – schreibt ein französischer Priester 91

– „könnte darin bestehen zu denken, dass das Leben ein Kapital sei, das wir am Anfang bekommen haben und das nun gegen alle Angriffe von außen verteidigt werden müsse – ein Kapital, das im Verlauf der Jahre unerbittlich dahinschmilzt wie Packeis in der Sonne. Denn früher oder später kommt der Tod. Sind wir folglich dazu verdammt, wie eine Ar- mee zu leben, die ständig auf dem Rückzug ist, bis zur unvermeidbaren Niederlage? Ist es das, was leben heißt?“ Oder geht es nicht vielmehr darum, offen zu sein für die Liebe, die uns geschenkt ist und die wir verschenken können? Über das Wunder der Schöpfung zu staunen? Uns leidenschaftlich dafür einzusetzen, dass Menschen menschenwürdig le- ben können? Unsere Endlichkeit als eine Chance zu begreifen? Den Tod als einen Übergang in ein neues, unzerstörbares Leben zu erkennen? Es gibt derzeit immer wieder Stimmen von außerhalb der Kirche , die jetzt in dieser Pandemie gerade das von uns Christen erwarten: Sagt uns doch, was Leben bedeutet, und sagt uns doch, was es mit dem Tod auf sich hat! Haben wir also den Mut, uns zu unserem österlichen Glauben zu bekennen. Bekennen wir, dass uns die Fülle des Lebens im Vertrauen auf Gott zuwächst, der unser Leben und unser Sterben in seinen Händen hält. Bekennen wir, dass Ostern das „Ja“ zur Kultur des Lebens ist. Mit unserer Taufe auf Jesus Christus sind wir – wie Paulus sagt (vgl. Röm. 6,3-11) – auf seinen Tod getauft. Wie Christus aber von den Toten auf- erweckt wurde, sollen auch wir als neue Menschen leben – befreit von Angst und den Mitmenschen in Liebe zugewandt. Dem Leben zu dienen bis zuletzt, ist unser österlicher Auftrag. Mit großem Respekt grüße ich heute besonders diejenigen, die privat oder beruflich Kranke pflegen und Sterbenden beistehen. Aus eigener familiärer Erfahrung weiß ich, wie schnell man dabei auch an die Gren- zen der Belastbarkeit kommen kann. Möge Gott Ihnen viel Kraft und Geduld, Hoffnung und Zuversicht schenken. Zugleich erbitte ich Ihnen allen den Segen des allmächtigen und barm- herzigen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. 92

Wo ist das Galiläa von heute? Predigt am Ostersonntag 2021 „Lust an neuer ‚Kirchenapokalyptik?’“ So lautet der Titel eines Textes, der folgendes beschreibt: am rand am strand der welt liegen große schöne bizarre leere schneckenhäuser kölner dome petersdome hagiasofias karolingische romanische gotische byzantinische 19. 20. jahrhundert schneckenhäuser daraus das leben ausgezogen man sieht schwarze ströme touristeninsekten heraus herein eilen wimmeln in einer unbegreiflichen hektik europa ist zu einem großen christlichen museum geworden europa zum rand und strand der welt mit schönheit aus bronze marmor aus sandstein backstein beton europa ein kostbares grab das grab ist leer der held erwacht aber anderswo Dieses Gedicht von Wilhelm Willms ist vor über 40 Jahren verfasst wor- den. Geradezu visionär nimmt es zum Teil die Erfahrung vorweg, die wir nun schon seit längerer Zeit aufgrund der Corona-Pandemie machen: Immer wieder müssen öffentliche Gottesdienste ausfallen oder können nur unter strengen Hygienemaßnahmen stattfinden. Manches wirkt ste- ril. Vor einem Jahr blieben sogar ausgerechnet an Ostern die Kirchen- 93

bänke leer, Gottesdienste fanden höchstens im kleinsten Kreis statt. Das „Leben war ausgezogen“. Und auch in diesem Jahr gibt es Pfarreien, die ihre Kirchen zum persönlichen Gebet zwar offenhalten, dort aber vorsichtshalber keine gemeinsamen Gottesdienste feiern. Wurde und wird uns damit vielleicht vor Augen geführt, wie es in einigen Jahren auch ohne die Einschränkungen der Pandemie aussehen könnte? Schon Friedrich Nietzsche schrieb in seinem Text über den „tollen Menschen“: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Gräber und die Grabmäler Gottes sind?“ Vielleicht war und ist eine solche Situation, wie wir sie erleben, aber auch ein „kairos“: ein Zeitpunkt, innezuhalten und sich zu besinnen, eine Gelegenheit, danach zu fragen, ob Gott uns damit etwas sagen will und was dies sein könnte, eine Provokation, um aus Verkrustungen auf- zubrechen und neues Leben zu suchen. Wie viele verschanzen sich doch hinter Lehrsätzen und Gewohnheiten. Was früher war, zählt und wird für wesentlich angesehen. Manchmal regt uns das Evangelium als das eigentliche Gewissen unserer Kirche viel zu wenig auf oder an. Suchen wir Gott überhaupt noch, oder glauben wir, ihn längst begriffen und erfasst zu haben? Ist unser Herz – wie es der heilige Augustinus einmal gesagt hat – dabei noch unruhig, oder haben wir diese Unruhe längst mit alltäglichen Gewissheiten und Pflichten zum Schweigen gebracht? Trauen wir uns noch, unsere gewohnten Bahnen und Überzeugungen zu verlassen, um Gott auch außerhalb davon zu suchen? Das Evangelium mit der Erzählung vom leeren Grab (Mk 16, 1-7) könnte uns dabei eine Richtung weisen. Und was hören wir da? Drei Frauen, die Jesus zu Lebzeiten besonders nah gestanden haben, kommen zum Grab, um den Leichnam zu salben. Zu ihrem Erstaunen ist der Stein, der das Grab verschloss, weggewälzt. Und im Grab selbst sitzt ein junger Mann in weißem Gewand. Kein Wunder, dass die drei Frauen sehr erschrecken. Der junge Mann – anderswo ist von einem Engel die Rede – weiß, was in ihnen vorgeht. Er beruhigt sie und sagt: „Jesus ist auferstanden, er ist nicht hier“ (16, 6). Das leere Grab hat keine Bedeutung mehr. Es geht auch gar nicht darum, was mit dem Körper Jesu passiert ist. Es geht da- rum, dass Jesus von nun an nicht mehr unter den Toten, sondern unter den Lebenden zu finden ist. Er ist auferstanden. „Er geht euch“ – sagt der junge Mann den drei Frauen – „voraus nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen“ (16, 7). Das sollen sie auch den Jüngern ausrichten. 94

Was aber ist mit Galiläa gemeint? Hat diese zunächst wohl unauffällige Bezeichnung vielleicht sogar eine tiefere Bedeutung? Galiläa, das ist zum einen der Ort, an dem alles begonnen hatte, der Ort, an dem die Jünger Jesus zum ersten Mal begegnet waren. Galiläa, das ist zugleich aber auch die Gegend, die von Jerusalem am weitesten entfernt war, geografisch und auch geistig. „Es war“ – wie Papst Franziskus sagt – „ein von unterschiedlichen Völkern bewohntes Gebiet, die verschiedenen Re- ligionen angehörten; es war das ‚heidnische Galiläa‘.“ Dort will Jesus anscheinend wieder neu gefunden werden, in einer Region mit „größter Distanz zur Heiligkeit der Heiligen Stadt“. Was könnte das für uns bedeuten? Wo ist unser Galiläa? Wo könnten wir dem auferstandenen Christus heute begegnen (vgl. Tomáš Halík)? Auf jeden Fall ist klar, er lässt sich nicht auf unsere gewohnten Räume und Bereiche eingrenzen oder irgendwo festhalten. Er ist nicht nur in den Domen und Kathedralen oder in den vertrauten Dorfkirchen zu fin- den. Er war und ist auch überall dort, wo sich zwei oder drei in seinem Namen versammeln. Er ist im Leben der Menschen von heute, in ihren Gedanken und Hoffnungen, in ihrer Angst und ihrer Trauer. Er ist in diesen Tagen gerade auch in den Sorgen, die die Coronapandemie uns Bischof bei der Predigt am Ostersonntag in der Kathedrale St. Sebastian 95

bereitet und die unzähligen Menschen das Leben schwer macht. Vieles, was wir uns vor nicht allzu langer Zeit kaum hätten vorstellen können, ist eingetreten: „Kontaktbeschränkungen, Reiseverbote, […] der Verzicht auf das Treffen mit den Eltern und Großeltern, Familienfeiern in Einsam- keit“. Wie kann da die Lebensfreude erhalten bleiben oder Osterfreude aufkommen? „Jesus geht euch voraus nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen“. Könn- te dieser Hinweis uns nicht ermutigen, ihn auch außerhalb unseres kirchlichen Erfahrungsraumes zu suchen, sogar da, wo wir es vielleicht nie erwarten würden: auch bei all denen zum Beispiel, die anscheinend ganz gut ohne irgendeinen religiösen Glauben auskommen, dennoch aber manchmal menschenfreundlicher und solidarischer als wir Chris- ten sind und vom Leben durchaus noch mehr erwarten oder erhoffen als nur Erfolge und Reichtum? Das gilt für jede und jeden von uns ganz persönlich, das gilt aber auch von uns als Kirche. Wenn wir uns darauf einlassen, haben wir trotz allem, was derzeit so massiv an Schuld und Versagen ans Licht kommt, eine Zukunft. „Lasst uns dem Leben trauen, weil wir es nicht allein zu leben haben, sondern Gott es mit uns lebt“. Das schrieb der Jesuit Alfred Delp im Ge- fängnis, als er den Tod vor Augen hatte. „Lasst uns dem Leben trauen“. „das grab ist leer – der held erwacht – aber anderswo“. Ja, der Aufer- standene ist uns längst vorausgegangen, und es ist an uns, ihn zu erspü- ren: in den Problemfeldern und Wunden dieser Welt, in unserer eigenen Angst und Ohnmacht, aber auch in unserer Sehnsucht und Hoffnung – und in unserem Mut und unserer Kreativität, womit wir versuchen, der Resignation zu trotzen und als Kirche neue Wege zu gehen. Möge dies nicht nur ein frommer Wunsch bleiben und Ostern für uns mehr sein als nur ein holdes Frühlingserwachen oder ein lustiges Eierfest. Das Eulenspiegel-Multimedia Team begleitete viele Livestream-Gottesdienste 96

„Bei Gott bist du groß“ Interview des Bonifatiuswerkes der deutschen Katholiken zur Erstkommunionaktion 2021 Bonifatiuswerk: Sehr geehrter Herr Dr. Feige, als Bischof sind Sie qua Amt eine Person des öffentlichen Lebens und stehen immer wieder im Fokus medialen Interesses. Da könnte man meinen, Sie sind es gar nicht gewohnt, „übersehen“ zu werden?! Feige: Das täuscht. In unserer Region sind meistens andere Personen wichtiger als irgendwelche Vertreter der katholischen Kirche. Zudem muss ich mir bei meiner Körpergröße manchmal schon etwas einfallen lassen, um inmitten anderer Menschen selbst genügend zu sehen. Bonifatiuswerk: Das Phänomen, einander nicht wahrzunehmen, exis- tiert auch innerhalb der Gemeinschaft der Kirche. 2020 haben wir 30 Jahre Deutsche Einheit feiern dürfen. Gibt es unter den Ka- tholikinnen und Katholiken in der Diaspora Mittel- und Ostdeutschlands mitunter das Gefühl, „übersehen“ zu wer- den? Feige: Angesichts dessen, dass wir nur eine kleine Min- derheit sind und auch sonst in vielem nicht mit den meisten anderen Bistümern mithalten können, entsteht gelegentlich der Eindruck, wir „spielten in einer anderen Liga“ oder sei- en nur ein Anhängsel der ka- tholischen Kirche in Deutsch- land. In den ersten Jahren nach 1990 war das nicht so ausgeprägt. Andererseits aber Gerhard Feige bei seiner Erstkommunion am 24. April 1960 97

schauen einige inzwischen doch aufgrund der sich bei uns schon extre- mer als im Westen auswirkenden Säkularität wieder stärker auf uns. Wie finden Christen in einer solchen Situation ihren Weg? Mit manchem sind wir da gewissermaßen wohl so etwas wie „Vorreiter“. Bonifatiuswerk: Blicken wir in die Heilige Schrift: Die Begegnung zwi- schen Jesus und Zachäus, wie sie im Lukasevangelium berichtet wird, gehört zu den bekanntesten Erzählungen des Neuen Testamentes. Si- cherlich haben auch Sie verschiedene Erfahrungen und Assoziationen mit dieser Perikope in ihrem Leben gemacht? Feige: Am beeindruckendsten hat mir Tomáš Halik, ein tschechischer Priester und Religionsphilosoph, in seinem Buch „Die Geduld mit Gott. Die Geschichte von Zachäus heute“ den Blick für die Aktualität die- ser Erzählung geöffnet. Er bezeichnet sie sogar als ein“ Evangelium im Kleinen“, den deutlichen Ausdruck für das vorrangige Interesse Jesu an allen, die am Rande leben, die aber weder gleichgültig noch hart gewor- den sind, die noch etwas erwarten oder erhoffen und darum zweifeln und suchen. Und solche Zachäus-Menschen sieht Halik in vielen unserer angeblich ungläubigen Zeitgenossen. Ihnen, die oftmals eher unsicher und scheu als aggressiv und abweisend sind, sollte man – so sein Rat – wie Jesus empfindsam und liebevoll begegnen, nicht aufdringlich oder verzweckend. Bonifatiuswerk: Das Motto der Erstkommunion-Aktion 2022 des Boni- fatiuswerkes lautet: „Bei mir bist du groß!“. Es möchte vermitteln, dass Jesus gerade auch die Kleinen im Blick hat, dass jeder Mensch bei ihm Größe und Würde besitzt und nicht verloren geht. Wie berührt Sie diese Zusage in ihrem Alltag? Feige: Ich finde sie enorm wichtig. Mich bedrückt aber, wenn ich mitbe- komme, dass Kinder keine wirkliche Liebe erfahren, sich nicht mensch- lich entfalten können und in ihrem Wesen verkümmern. Manche werden sogar eiskalt abgeschoben, gedemütigt oder missbraucht. Viele leiden auch unter ärmlichen Verhältnissen oder darunter, dass familiäre Be- ziehungen in die Brüche gehen. Weltweit kommen noch Hunger und Krankheit, Terror und Krieg hinzu. Auf diesem Hintergrund spornt die Haltung Jesu noch einmal mehr dazu an, jeden Menschen als von Gott geadelt anzusehen. 98

Bonifatiuswerk: Wie können Mädchen und Jungen heute ermutigt werden, zumal im Kontext einer religiösen Minderheitssituation, die Be- gegnung mit Jesus zu suchen und sich von ihm ansprechen zu lassen? Feige: Ohne das Beispiel gläubiger Eltern, anderer vertrauensvoller Vorbilder und gemeinschaftlicher Erlebnisse wird das kaum gelingen. Schließlich geht es nicht um erlernbares Wissen, sondern um praktische Erfahrungen, will Glaube bezeugt und nicht anerzogen werden. Bonifatiuswerk: Die Vorbereitung auf die Erstkommunion ist für viele Kinder und ihre Familien eine besondere Zeit. Wie haben Sie diese Vor- bereitungszeit als Kind erlebt? Und was nehmen Sie heute als Bischof von dieser Zeit der Vorbereitung wahr? Feige: Leider kann ich mich kaum noch an viele Ein- zelheiten erinnern. Ich war damals acht Jahre alt und ging in die zweite Schulklas- se. Vergessen habe ich aber nicht, dass wir zu großer Ehr- furcht angehalten wurden. Zur unmittelbaren Vor- und Nachbereitung des Kommu- nionempfangs in der Eucha- ristiefeier gab es dann eigene Gebete; und um sich zu kon- zentrieren, sollten wir dabei die Hände vors Gesicht hal- ten. Wie ernst meine Eltern dieses Ereignis nahmen, zeig- te sich unter anderem darin, dass ich dazu meine aller- erste Armbanduhr geschenkt bekam – aber erst zwei Tage danach! Am Festtag selbst sollte ich nicht durch solch ein Geschenk vom eigentli- chen abgelenkt werden. Bischof em. Leo Nowak bei seiner Erstkommunion im Jahr 1939 99

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Da ich als Bischof nicht direkt in einer Gemeinde wirke, bekomme ich von den Vorbereitungen auf die Erstkommunion vor Ort nicht viel mit. Ich höre nur manchmal, dass es nicht ganz einfach ist, Kindern, die kaum Gottesdiensterfahrungen haben, die besondere Bedeutung der Kommunion nahezubringen. Bonifatiuswerk: Was wünschen Sie sich für die Kinder und ihre Famili- en, die sich heute auf die Erstkommunion vorbereiten? Feige: Dass sie möglichst existentiell von der christlichen Botschaft berührt werden und aus der Freude am Glauben Kraft und Zuversicht für ihr Leben erfahren – und dass Ihnen die Gemeinschaft der anderen Gläubigen dabei eine echte Hilfe ist. Diaspora-Jahrheft 2021 Interview des Bonifatiuswerkes der deutschen Katholiken Bonifatiuswerk: Herr Bischof, wie gestaltet sich Ökumene in der Diaspora? Feige: Katholisch im Ursprungsland der lutherischen Reformation zu sein, war lange Zeit nicht unbedingt angenehm und leicht. Seit Jahr- zehnten aber sind das ökumenische Bewusstsein und die geschwister- liche Verbundenheit zwischen evangelischen und katholischen Chris- ten enorm gewachsen. War es bis zur friedlichen Revolution von 1989 verstärkt der marxistisch-leninistische Druck, der uns zusammenrücken ließ, drängt oder beflügelt uns heute die extreme Entkirchlichung in un- serer Region zu größerer Nähe. Aufgrund dessen haben wir Katholiken uns im Rahmen unseres Pastoralen Zukunftsgespräches 2004 dazu auch folgendermaßen geäußert: „Im Bistum Magdeburg … hat Ökumene eine besondere Bedeutung. In einer Situation, in der christlicher Glaube längst nicht mehr selbstverständlich ist, kommt dem Umgang der Kir- chen miteinander sowie ihrem gemeinsamen Auftreten eine besondere Bedeutung für ihre Glaubwürdigkeit zu … sind die Christen aufgerufen, in Wort und Tat gemeinsam vom Evangelium Zeugnis zu geben.“ Und so werden selbstverständlich immer wieder ökumenische Gottesdiens- te gefeiert, treffen sich die führenden Geistlichen und andere Vertreter der Kirchen regelmäßig zu Kontaktgesprächen, ist es möglich, sich über 100

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alles – einschließlich kritischer Wahrnehmungen – offen und vertrau- ensvoll auszutauschen. Darüber hinaus werden die Jahresempfänge der Kirchen und die Gespräche mit der Landesregierung ökumenisch durch- geführt, bestreiten wir manche Aktionen – wie z. B. für eine Kultur der Aufmerksamkeit gegen rechts- wie linksextreme Tendenzen, für den Sonn- und Feiertagsschutz oder für mehr Beteiligung an den Wahlen – gemeinsam. Zudem helfen sich verschiedene Gemeinden kirchenmu- sikalisch aus. Dankenswerterweise können wir Katholiken gelegentlich auch den „evangelischen“ Dom in Magdeburg mitbenutzen, selbst zu Fronleichnam, dem ja wohl katholischsten aller Feste. Schließlich ge- hören zu meinen Visitationen unserer Pfarreien inzwischen fast überall Begegnungen und Gespräche mit evangelischen Pfarrern und Pfarre- rinnen dazu. Besonders zusammengewachsen sind wir anlässlich des 500. Reformationsjubiläums. Im Vorfeld kam sogar eine ökumenische Romfahrt von 1000 überwiegend jungen Leuten unter dem Motto: „Mit Luther zum Papst“ zustande. Bonifatiuswerk: Sie haben zuletzt für einen „langen Atem in der Öku- mene“ geworben. Warum? Feige: Momentan tritt Ökumene eher etwas auf der Stelle. Viel ist inzwi- schen zwar schon erreicht. Auf welches Ziel wir aber zugehen könnten oder müssten, darüber besteht noch keine Einigkeit. Eine anzustrebende Der Präsident des Bonifatiuswerkes Heinz Paus (Mitte), Generalsekretär Monsignore Georg Austen (l.) und Geschäftsführer Ingo Imenkämper 101

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Möglichkeit wird als „sichtbare Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ umschrieben. Aber was heißt das konkret? Und so kommt es trotz al- ler theologischen Dialoge und erfreulichen Begegnungen immer wie- der einmal zu Irritationen und Spannungen: so z.B. bei Überlegungen in Deutschland zur Teilnahmemöglichkeit anderer Christen an Kommunion oder Abendmahl. Auch innerkirchliche Konflikte – wie z.B. der zwischen Konstantinopel und Moskau über den Führungsanspruch in der Ortho- doxie und die Entwicklung ihrer Kirche in der Ukraine – können öku- menische Beziehungen beeinträchtigen. Erfreulich ist jedoch, dass es genügend Christen gibt, die sich tatkräftig mit Herz und Verstand für weitere Fortschritte einsetzen – weil das der eindringlichen Bitte Jesu entspricht. Bonifatiuswerk: Wie bewerten Sie den Ende 2020 veröffentlichten Ökumene-Leitfaden des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen? Feige: Dieses „Vademecum“ des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit, dem der Papst ausdrücklich zugestimmt hat, stellt deutlich he- raus, dass Ökumene wesentlich zum Auftrag der Kirche und besonders der Bischöfe dazugehört. Das weltweit in Erinnerung zu rufen, halte ich für ein wichtiges Zeichen. Zugleich bin ich dankbar, dass für uns in Deutschland das alles bereits ziemlich selbstverständlich ist. Bonifatiuswerk: Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Kirche? Feige: Angesichts der gegenwärtigen Krise mit ihren dramatischen Um- brüchen und Polarisierungen wünschte ich mir, dass möglichst viele Christen begreifen, gemeinsam Kirche zu sein, keiner ideologisch er- starrten Einrichtung anzugehören, sondern eine lebendige Bewegung und spannende Expedition in Gemeinschaft mit Christus und unterein- ander zu bilden. Dazu gehört aber, möglichst existentiell von seiner Bot- schaft berührt zu sein und aus der Freude am Glauben auch sonst Kraft und Zuversicht zu erfahren. Dazu gehört jedoch ebenso die Bereitschaft zu Umkehr und Buße sowie notwendigen Reformen. Dabei erhoffe ich insgesamt sowohl mehr Realitätssinn und Barmherzigkeit als auch mehr Mut und Fantasie. 102

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Bonifatiuswerk: Welche inhaltlichen Schwerpunkte gilt es mit dem Bonifatiuswerk zukünftig im Blick zu behalten? Feige: „Wir wollen eine Kirche sein, die sich nicht selbst genügt, son- dern die allen Menschen Anteil an der Hoffnung gibt, die uns in Jesus Christus geschenkt ist. … Deshalb nehmen wir die Herausforderung an, in unserer Diasporasituation eine missionarische Kirche zu sein. Einla- dend, offen und dialogbereit gehen wir in die Zukunft.“ So haben wir es 2004 einmal programmatisch formuliert. Dafür, uns dabei auch weiter- hin zu unterstützen, wären wir dem Bonifatiuswerk sehr dankbar. Das Jahrheft des Bonifatiuswerkes 103

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Wegbereiter, nicht Nachlassverwalter Predigt zum 65-jährigen Priesterjubiläum von Bischof Leo Nowak und Domkapitular Willi Kraning an Christi Himmelfahrt 2021 Vor 65 Jahren – 1956 – wurdet ihr, lieber Bischof Leo und lieber Willi, mit noch vier anderen Kandidaten hier in der Kirche St. Sebastian durch Weihbischof Friedrich Maria Rintelen zum Priester geweiht. Das war elf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und sieben Jahre nach der Proklama- tion der DDR, zwei Jahre vor dem Papstwechsel von Pius XII. zu Johan- nes XXIII. und sechs Jahre vor der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils, fünf Jahre vor dem Bau der Mauer und 33 Jahre vor ihrem Fall. Auch wenn eure Priesterweihe noch im tridentinischen Ritus stattge- funden hat, seid ihr beide doch alles andere als vorkonziliar. Im Gegen- teil! Geprägt von der Jugend- und Bibelbewegung, von der liturgischen und ökumenischen Bewegung und von einem neuen Kirchenbewusst- sein, das sich ja dann schließlich auch im Konzil niedergeschlagen hat, haben diese Aufbrüche euren jeweiligen Dienst bis heute bestimmt. Damals galt, was der große Theologe Karl Rahner ein Jahr zuvor (1955) in einer Primizpredigt an mehrere Neupriester so beschrieben hatte: „Dieser Ruf ist in einer seltsam zwielichtigen Zeit an Euch ergangen, in Bischof em. Leo Nowak und Domkapitular Willi Kraning zum 65. Weihejubiläum sowie Schwester Laetitia zum 60. Professjubiläum 104

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einer Zeit, in der man nicht weiß, ob ihre verdächtige Ruhe der Anfang einer wirklich friedlichen Zeit oder die Ruhe vor dem Sturm ist, in dem Gott auf der Tenne der Weltgeschichte noch ganz anders als bisher sei- nen Weizen worfeln wird.“ Manche Stürme sind seitdem über euch und unsere Region hinweggezo- gen. Vieles hat sich verändert: in den gesellschaftlichen und kirchlichen Verhältnissen, den Lebenseinstellungen und der eigenen Biografie. Und jetzt erleben wir besonders dramatische Umbrüche. Unübersehbar geht eine bisher vertraute Gestalt von Kirche zu Ende, und das Neue zeichnet sich höchstens in Umrissen ab. Ja, Papst Franziskus spricht sogar von einer „Zeitenwende, die neue und alte Fragen aufwirft, angesichts derer eine Auseinandersetzung berechtigt und notwendig ist“. Was Karl Rah- ner damals prophezeit hat, ist inzwischen überdeutlich eingetreten. Was kann uns da Mut machen? Was lässt sich vielleicht auch gerade über die Aufgabe all derer aussagen, die sich heutzutage in den Dienst des Evangeliums stellen möchten? Das Evangelium von Christi Himmelfahrt weist uns dabei einen Weg. Es spricht genau in eine solche „Zwischenzeit“, wie wir sie erleben, hinein. Nach dem Tod Jesu schien für die Jünger erst einmal alles aus zu sein. Deshalb fiel es ihnen auch schwer, denen zu glauben, denen er nach seiner Auferstehung erschienen war. Doch dann gab es diesen besonders dichten Augenblick, in dem Jesus sich auch ihnen zeigte, bevor er in den Himmel aufgenommen wurde, einen Augenblick, in dem ihnen auf- leuchtete, dass seine Geschichte keineswegs zu Ende ist. Im Gegenteil! Denn nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt ist er sogar gegenwär- tiger als zuvor, allezeit und überall, bis ans Ende der Welt. Dazu braucht er aber auch Menschen, die sich rufen und in Dienst nehmen lassen. Ich bin überzeugt, dass Ihr, lieber Bischof Leo und lieber Willi, solche Augenblicke von besonderer Dichte in der Begegnung mit Jesus Christus kennt. Und dass es solche Augenblicke waren, die euch immer wieder Mut gemacht haben, euch den Herausforderungen der jeweiligen Zeit zu stellen: in der DDR, zur Zeit der gesellschaftlich-politischen Wende und in den Aufbrüchen danach bis heute. Dabei ist euch – so meine Wahrnehmung und Erfahrung – auch das bewusst geworden, was Jesus den Jüngern gleich doppelt ans Herz legt: Das Evangelium ist für alle da. Er sendet die Jünger in die ganze Welt. Nicht nur das Volk Israel ist 105

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Adressat; nein, sie sollen ihre Mission auf alle Menschen, ja sogar auf die ganze Schöpfung hin ausweiten. Das ist die Weise, wie er – Jesus Christus – unter uns weiterwirken will. Wer Jesus nachfolgen will – sagt Papst Franziskus – ist somit jemand, „der über sich selbst hinausgeht“ und „auf die Begegnung hin ausge- richtet ist“: „mit Jesus, dem Meister“, und „mit den Menschen, die auf die Verkündigung warten“. Deshalb – so der Papst weiter – sind „die existentiellen Peripherien“ der Ort der Jünger. Damit meint er zweierlei: zum einen natürlich die Menschen, die im Abseits sind, die Ausgegrenz- ten und Schwachen. Es geht also darum, eine diakonische Kirche zu sein. Zum anderen ist damit aber auch gemeint, dass wir in unserem Bezug zu Jesus Christus immer wieder über unsere Grenzen gehen müssen. Er ist zwar gegenwärtig, aber nicht so, dass wir ihn mit unseren leiblichen Sinnen erfassen könnten. Wie für die Jünger damals geht es auch um unser Vertrauen und unsere Bereitschaft, Christus größer zu denken als wir es uns vorstellen können. Und auch die Sendung, die er uns aufträgt, ist nichts, was wir ein für alle Mal definieren – und das heißt ja wörtlich: begrenzen – könnten. Immer neu werden wir dazu gerufen, unseren Ho- rizont zu erweitern und Neuland zu betreten. Von einer solchen Haltung seid ihr beide, lieber Bischof Leo und lieber Willi, geprägt. Schon bald nach unserer Bistumsgründung wart ihr da- von überzeugt, dass wir als Kirche aus uns herausgehen müssen. Des- halb habt Ihr in eurer jeweiligen Verantwortung einen Prozess angeregt, der schließlich ins Pastorale Zukunftsgespräch mündete und als Leitbild formulierte: „Wir wagen den Aufbruch. Wir wollen eine Kirche sein, die sich nicht selbst genügt, sondern die allen Menschen Anteil an der Hoff- nung gibt, die uns in Jesus Christus geschenkt ist. … Deshalb nehmen wir die Herausforderung an, in unserer Diasporasituation eine missiona- rische Kirche zu sein“. Ihr wolltet Wegbereiter und nicht Nachlassverwalter sein. In der Tat! Auch wenn es wichtig ist, volkskirchliches Erbe zu pflegen und Tradi- tionen am Leben zu erhalten, so dürfen sich Priester nicht in die Rolle derer drängen lassen, die einfach nur das Alte bewahren wollen. Von ihnen wird vielmehr erwartet, nach zukunftsträchtigen Lösungen zu su- chen und mutig voranzuschreiten. Dabei kommt ihnen vor allem auch die Aufgabe zu, den Glauben ihrer Schwestern und Brüder so zu stär- 106

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ken, dass sie erkennen, „zu welcher Hoffnung sie berufen sind“ (vgl. Eph 1,18). Ich bin überzeugt, dass sich vieles in unserem Bistum längst in diese Richtung entwickelt. Gerade die Coronapandemie bringt ans Licht, wie viele gerade auch in diesen schweren Zeiten Verantwortung wahrneh- men und sich mit ihrem Glauben und Vertrauen, ihren Charismen und Fähigkeiten einbringen, damit Kirche unter den Voraussetzungen und Bedingungen einer äußerst säkularen Diaspora lebendig und wirksam bleibt. Nicht wenigen ist dabei bewusst geworden, wie wichtig es sein kann, auch über die digitalen Medien als Kirche bei den Menschen zu sein. All das sind für mich Zeichen dafür, dass viele Getaufte und Ge- firmte ihre Berufung längst erkennen und wir miteinander Kirche sind. Liebe Schwestern und Brüder, voller Dankbarkeit feiern wir heute mit Bischof Leo und Domkapitular Willi Kraning ihr 65jähriges Priesterjubi- läum. Unser Dank gilt Gott, unser Dank gilt aber auch euch beiden, liebe Mitbrüder, für euren unermüdlichen Einsatz dafür, Christus unter im- mer neuen äußeren Bedingungen bezeugt zu haben. Bitten wir Gott um seinen Segen für die Jubilare und ihre Angehörigen, für alle, die ihnen herzlich verbunden sind, für unsere Pfarreien, unser Bistum und unsere ganze Kirche. Mögen uns daraus Hoffnung und Zuversicht erwachsen. Domkapitular Willi Kraning bedankt sich für die vielen lieben Wünsche. 107

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„Krisen“ Begleittext im Bildband #Behindthemask aus dem Verlag Frederking & Thaler, Autor Björn Eenboom, Fotograf Marcel Gregory Stock Krisen – wie auch die durch das Corona-Virus ausgelöste – zeigen oftmals deutlicher als gewöhnliche Zeiten, „wes Geistes Kind wir sind“: verletz- lich und verwundbar allesamt und doch von einzigartiger Würde, dann aber auch ichbezogen und rücksichtslos oder solidarisch und einfühl- sam, uneinsichtig und zerstörerisch oder verantwortungsbewusst und aufbauend, ängstlich und mutlos oder zuversichtlich und hoffnungsvoll. Eine Notlage kann unter uns das Beste, aber auch das Schlechteste zum Vorschein bringen. Der Fotograf Marcel Gregory Stock bei der Aufnahme. Das Model muss die Beleuchtung in Form von Neolichtern selbst halten. 108

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„Bin unsicher, ob von diesem ÖKT große Strahlkraft ausgehen wird.“ Interview von Steffen Zimmermann für katholisch.de vom 17. Mai 2021 Zimmermann: Bischof Feige, wie fällt Ihre persönliche Bilanz des Ökumenischen Kirchentags aus? Feige: Meine persönliche Bilanz ist gemischt. Es war – bedingt durch die Corona-Pandemie – kein „normaler“ Kirchentag, und ich bin unsicher, ob eine große Strahlkraft von ihm ausgegan- gen ist oder noch ausgehen wird. Gleichwohl bin ich beein- druckt, dass das Treffen in die- ser schwierigen Zeit überhaupt stattfinden konnte und offenbar doch eine große Zahl von Men- schen erreicht hat. Ich staune, welche Kreativität zutage getre- ten ist. Und ich bin den vielen Haupt- und Ehrenamtlichen, die das Tref- fen vorbereitet, organisiert und daran mitgewirkt haben, sehr dankbar. Es war ein mutiger Versuch und ich hoffe natürlich, dass er Früchte trägt. Kritisch sehe ich jedoch, dass man sich sprachlich und optisch trotz aller Anstrengungen weitgehend in einer binnenkirchlichen Blase bewegt und damit wohl kaum Nicht-Gläubige oder den Kirchen distan- ziert gegenüber stehende Menschen erreicht hat. Steffen Zimmermann, katholisch.de Zimmermann: Kirchentage leben normalerweise ganz wesentlich von der Atmosphäre und den Gesprächen vor Ort. Das war aufgrund der Pandemie und der weitgehenden Verlagerung des Treffens in den di- gitalen Raum diesmal anders. Haben Sie trotzdem so etwas wie eine Kirchentags-Atmosphäre gespürt? 110

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Feige: Ob das Konzept „digital und dezentral“ aufgegangen ist, kann ich noch nicht abschließend beurteilen. Ich habe jedenfalls alleine vor meinem Computer gesessen. Dabei habe ich zwar Eindrücke von mehr Veranstaltungen als sonst gewinnen können – diese Eindrücke blieben aber distanziert und unterkühlt. In Erinnerung bleiben wird mir vermut- lich nicht viel, weil mir der lebendige Kontext gefehlt hat. Digitale Kom- munikation ist – jedenfalls für mich – ziemlich steril: im Austausch von Informationen sicher hilfreich, aber emotional sehr dürftig. Zimmermann: Welche Inhalte des ÖKT-Programms haben Sie konkret verfolgt und was hat Ihnen trotz der digitalen Barriere besonders gut gefallen? Feige: Ich habe mir natürlich die großen Gottesdienste angesehen – den Eröffnungs- und Abschlussgottesdienst, den Gottesdienst der Arbeits- gemeinschaft Christlicher Kirchen sowie die katholische Eucharistiefeier am Samstagabend. Darüber hinaus habe ich mir verschiedene Podiums- diskussionen angehört, etwa zu Antisemitismus und Rassismus, zur spi- rituellen Herausforderung der Corona-Pandemie, zur Glaubwürdigkeit der Kirchen sowie zur Eucharistie- und Abendmahlsproblematik. Beson- ders ansprechend fand ich die auch vom ZDF übertragene Diskussion über die Frage nach dem assistierten Suizid. Hier ist es nach meinem Eindruck gelungen, sehr fachkundig, differenziert und einfühlsam mit dem Thema umzugehen. Geärgert hat mich nur, dass vor allem durch den Moderator der Eindruck erweckt wurde, dass es bei diesem Thema vorrangig um katholisch-evangelische Differenzen gehe. Da hätte ich mir schon gewünscht, dass klarer zum Ausdruck gekommen wäre, dass das nicht der Fall ist, sondern beide Kirchen in der Sorge und Bewer- tung weitgehend übereinstimmen. Andere Podien, die ich gesehen habe, wirkten dagegen eher wie ein Nebeneinander von Modulen und ein Sammelsurium von Assoziationen und Meinungen und haben inhaltlich nicht weitergeführt oder zu einer Klärung beigetragen. Zimmermann: Haben Sie auch an einem der digitalen Stehtische teil- genommen, die ja als Orte für einen offenen Austausch dienen sollten? Feige: Nein, darauf habe ich verzichtet. Zum einen reichte die Zeit dafür nicht, zum anderen liegt mir das überhaupt nicht. Für so etwas bin ich vermutlich einfach zu alt. 111

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Zimmermann: Ein großes Thema im Vorfeld des ÖKT war die Debatte um das gemeinsame Abendmahl. Durch die weitgehende Verlagerung des Kirchentags in den digitalen Raum hat dieses Thema letztlich bei dem Treffen selbst keine große Rolle gespielt. Am greifbarsten waren noch die vier „ökumenisch sensiblen“ Mahlfeiern am Samstagabend. Wie bewerten Sie das Signal dieser Feiern? Feige: Ich habe aufgrund der zeitlichen Parallelität ja nur eine dieser Feiern mitverfolgen können, und das war die katholische Eucharis- tiefeier im Frankfurter Dom. Zumindest diese Feier war sicher weniger spektakulär, als das im Vorfeld vielleicht erwartet worden war. Gleich- wohl war es eine eindrucksvolle Veranstaltung – vor allem wegen des Schuldeingeständnisses des Frankfurter Stadtdekans und seiner Bitte um Vergebung gegenüber den evangelischen Christen. Darüber hinaus würde ich das Signal dieser Feiern aber nicht überbewerten. Es wurde im Vorfeld ja mehrfach betont, dass man die Chance nutzen solle, an Gottesdiensten der jeweils anderen Konfession teilzunehmen, um das mal kennenzulernen. Mit Verlaub: Das habe ich als Jugendlicher schon vor mehr als 50 Jahren erlebt. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil saßen in meiner Heimatgemeinde eines Tages plötzlich 50 evangelische Oberschüler auf der Empore, um auch mal einen katholischen Gottes- dienst zu erleben. Das zumindest ist also nichts Neues. Zimmermann: Kann von den Feiern trotzdem ein konkreter Fortschritt für die Frage des gemeinsamen Abendmahls erwachsen? Feige: Das muss man abwarten. Ich scheue mich aber grundsätzlich davor, die Eucharistieproblematik mit dem Begriff „Fortschritt“ zu ver- binden. Die Frage des gemeinsamen Abendmahls ist äußert komplex und emotional aufgeladen. Umso wichtiger ist es, hier Schritt für Schritt vo- ranzukommen. Spektakuläre Aktionen sorgen eher für Verwundungen. Zimmermann: Auf Kritik stieß der Umgang des ÖKT mit dem sexuellen Missbrauch in beiden Kirchen. Betroffene beklagten, dass sie kaum zu Wort gekommen seien. Wie beurteilen Sie das? Feige: Ich war an der konkreten Programmgestaltung des Kirchentags nicht beteiligt und weiß deshalb nicht, nach welchen Kriterien man dort entschieden hat. Es wäre aber sicher angebracht gewesen, den Betrof- 112

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fenen des sexuellen Missbrauchs eine eigene Veranstaltung zu widmen und sie dort ausführlich zu Wort kommen zu lassen. Soweit ich mit- bekommen habe, ist das ja nur am Rande und nur mit einem geringen Zeitkontingent geschehen. Zimmermann: Zum Ende des ÖKT wurde vielfach betont, dass der Kir- chentag die Ökumene in Deutschland vorangebracht habe. Teilen Sie diese Ansicht? Feige: Jedes Ereignis dieser Art bringt die Ökumene irgendwie voran; einen besonderen Schub durch den ÖKT spüre ich – wie schon gesagt – bisher aber nicht. Ich erwarte aber, dass künftige Katholikentage und evangelische Kirchentage noch ökumenischer ausgerichtet werden als bisher. Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall. Vielleicht braucht man dann irgendwann gar keinen ÖKT mehr. Darüber hinaus hoffe ich, dass die multilaterale Ökumene über die Arbeitsgemein- schaft Christlicher Kirchen noch mehr ins Bewusstsein tritt und an Ein- fluss gewinnt. Ökumene betrifft nicht nur die beiden großen Kirchen in Deutschland, sondern alle hier lebenden Christen. Diese Perspektive müssen wir noch stärker entwickeln. Gleichwohl sehe ich das Problem, dass wir nicht wissen, auf welches Einheitsmodell wir in der Ökumene zugehen wollen; dadurch dauert manches sicher länger. Umso wichtiger ist es, weiterhin mutig und klug einen Schritt nach dem anderen vor- anzugehen. 113

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Mit Dank und viel Respekt Erinnerungen aufgeschrieben von Eckhard Pohl für den Tag des Herrn am 6. Juni 2021 Dieser Tage verlassen die Elisabeth-Schwestern Halle. Bischof Gerhard Feige spricht über seine jahrelangen und vielfältigen Kontakte und Be- gegnungen mit den Ordensfrauen in seiner Heimatstadt. in der Kapelle Bei einem Dankgottesdienst ihres Klosters und langjährigen Provinzhauses sind in Halle die 16 letzten Schwestern von der heiligen Elisabeth verabschiedet worden. Gerhard Feige, seit 2005 Bischof von Magdeburg, war als Hallenser besonders in jungen Jahren viel mit den Ordensfrauen im Kontakt. Er wurde 1951 im St.-Barbara- Krankenhaus der Schwestern geboren und feierte 1978 seine Primiz in der Propsteikirche und in Räumen ihres St.-Elisabeth-Krankenhauses. Und er hat die Schwestern jetzt auch verabschiedet. Verbunden mit Dank und viel Respekt erinnert sich Feige an Begegnungen: Ministrantendienst morgens 5.50 Uhr „Nach dem Willen der Schwestern auf der Geburtsstation hätte ich eine Elisabeth werden sollen, weil ich am Elisabeth-Tag geboren wurde“, sagt Gerhard Feige. Das habe ihm seine Mutter erzählt. Doch aus der Elisa- beth wurde nichts, ein Gerhard er- blickte das Licht der Welt. Und wur- de zehn Jahre später Messdiener. Weil seine Mutter eines Tages mit einer Grauen Schwester vom na- hen Elisabeth-Krankenhaus wegen Paramentenarbeiten zu tun hatte, ministrierte er fortan oftmals in den Frühmessen der Ordensfrauen in deren großer Kapelle. „Das geschah sehr zum Leidwesen meines Pfar- rers Propst Johannes Langsch, der darin eine Konkurrenz zu meinem Dienst in der Pfarrei sah, zumal er Gerhard Feige 1970 als Lektor in der Kapelle bei den Elisabeth-Schwestern 114

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Die Elisabethschwestern beim Abschiedsgottesdienst in Halle es sich nicht nehmen ließ, persönlich die Ministranten auszubilden“, er- innert sich der heute 69-jährige Bischof. „Nach der Messe gab es in der Schwesternküche immer ein Frühstück, das konnte der Propst nicht bie- ten. Von dort bin ich direkt in die Schule gegangen.“ Allerdings fanden die Messen der Schwestern vor deren Dienstbeginn auf den Stationen und damit um 5.50 Uhr statt. „Nur sonntags konnten sie länger schla- fen. Da begann die Messe erst um 6 Uhr“, so Feige augenzwinkernd. So ein Ministrantendienst ging meistens eine Woche lang. „Wir waren zu sechst und haben uns abgewechselt. Wenn ich dran war, habe ich sonn- tags auch noch in der Gemeinde, also zweimal gedient. Das wiederum hielt der Propst für eine religiöse Überforderung.“ Für die Sakristei in der Schwesternkapelle waren damals Schwester Lucilla, die irgendwann Provinzoberin wurde, und später Schwester Celina, die den Dienst bis jetzt versehen hat, zuständig. Hanspeter Gospos, Geistlicher Direktor im St. Elisabeth-Krankenhaus, hielt den jugendlichen Gerhard an, die Lesung vorzutragen. „Es war kurz nach dem Konzil. Ich konnte alle fünf Lesungstöne und habe die Lesun- gen größtenteils gesungen.“ Zeitweise nahmen an den Gottesdiensten 100 Ordensfrauen teil. Auch als Patient hatte der Sohn eines Schuhmachermeisters mit den Elisabeth-Schwestern zu tun. „Als ich als Sechstklässler nach Äther- Narkose und Blinddarm-Operation wieder wach wurde, soll ich mit einer Schwester gerungen haben. Später war ich nochmal wegen einer anste- 115

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ckenden Bindehaut-Entzündung auf Station und hatte es bei Schwester Julitha sehr gut.“ Die Krankenhäuser hatten einen guten Ruf Begegnet seien ihm die Ordensfrauen auch bei den Caritas-Straßen- sammlungen. „Ich war schon ein bisschen neidisch, da manche Schwes- ter gleich mehrere Büchsen voll bekam.“ Grund sei nicht zuletzt der gute Ruf der beiden Krankenhäuser gewesen. Später, während des Studiums, habe er ein Praktikum auf einer Station gemacht, so Feige. „Ich musste Patienten-Tischchen abwischen oder ab- waschen, und dies zur Freude der Schwesternschülerinnen, die das nicht gern taten .“ In dieser Zeit sollte er auch einmal bei einer Mandel-OP „mit Äther-Betäubung und Schlinge“ einen Patienten festhalten. „Da- bei bin ich selbst umgefallen, weil ich Äther eingeatmet hatte.“ Auch Begegnungen mit Sterben und Tod gehörten zum Praktikum. Allerdings hatte er schon als Ministrant mit elf Jahren eine Stunde Totenwache am offenen Sarg einer verstorbenen Provinzoberin gehalten. „Das hat mich sehr berührt.“ Später war Feige dankbar, beim Tod seiner Mutter dabei gewesen zu sein. Zuvor war sein schwerkranker Vater von den Schwes- tern Basilia und Norberta ambulant mit gepflegt worden. „Viele Schwestern haben mich beeindruckt, besonders Schwester Mo- desta“, sagt Feige. „Sie hat an Bedürftige immer Suppe ausgeteilt und ist anschließend mit schweren Taschen und ihrer Mundharmonika zu Menschen in der Stadt gegangen, um sie zu unterstützen. Sie hatte auch ein Gespür, wenn jemand im Sterben lag. Als wir als Kinder einmal im Religionsunterricht etwas über ihren Einsatz hörten, sind wir danach zur Schwesternhauspforte gestürmt und wollten die ,heilige Schwester sehen‘“, so Feige. In den letzten Jahren hat Feige als Bischof Schwestern zu Jubiläen gra- tuliert oder das Krankenhaus besucht und dabei immer auch Kontakt mit den Ordensfrauen gehabt. „Ihr Dienst an den Nächsten hat Frische ausgestrahlt. Sie standen mitten im Leben und haben radikal ihren Auf- trag bestmöglich zu erfüllen versucht.“ 116

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Wahlnachruf Anmerkungen zum Ausgang der Landtagswahl 2021 in Sachsen-Anhalt Überrascht, erfreut und stolz nehme ich das Ergebnis unserer Landtags- wahl zur Kenntnis. Nach all den Befürchtungen der letzten Zeit ist es ein ausdrucksstarkes und hoffnungsvolles Signal für die Mündigkeit und das Verantwortungsbewusstsein der Bevölkerung in Sachsen-Anhalt. Über 75 % der Wählerinnen und Wähler haben sich für Parteien entschie- den, die eine konstruktive Politik erwarten lassen. Besonders gratuliere ich Ministerpräsident Dr. Haseloff für seinen überzeugenden Erfolg. Ich danke aber auch allen Bürgerinnen und Bürgern, die sich nicht von mar- kigen Parolen und simplen Sprüchen haben beeinflussen lassen, sondern im Rahmen christlicher Prinzipien und freiheitlich-demokratischer Wer- te ihrer Vernunft gefolgt sind. Ostdeutsche fühlen, denken und wählen zwar oftmals anders, aber sie sind größtenteils nicht rechtsextremistisch gesinnt oder „für die De- mokratie verloren“. Man sollte sie nicht nur auf ihre Sozialisation vor 1990 festlegen, sondern auch ihre Erfahrungen mit den gravierenden Umbrüchen und belastenden Entwicklungen danach ernstnehmen. Viele sind inzwischen „veränderungserschöpft“ (Steffen Mau). Dazu kommen noch die Schwächen, die eine Demokratie hat. Sie kann missverstanden Wir wählen... Dialog - Zukunft - Nächstenliebe! Aktion im Bistum Magdeburg zur Landtags- und Bundestagswahl 2021 117

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und missbraucht werden. Manche Bürgerinnen und Bürger fühlen sich überfordert oder durch Behörden ungerecht behandelt. Es fällt ihnen schwer zu verstehen, dass man mitunter aus rechtlicher Sicht sehr ex- treme Meinungen noch duldet, anderes aber verbietet. Sie fühlen sich nicht ernstgenommen oder glauben nicht, etwas verändern zu können. Andere wiederum nutzen ihre Möglichkeiten schamlos aus und bedie- nen sich selbst. Machtkämpfe, Postenschacher und Korruption sind nicht nur autoritären Systemen eigen. Außerdem gibt es auch solche, die mit demokratischen oder kriminellen Mitteln versuchen, unsere De- mokratie zu untergraben und zu Fall zu bringen. Das macht skeptisch und lässt manchmal Zweifel an der Richtigkeit des politischen Systems aufkommen. Da sind Wachsamkeit und Zivilcourage vonnöten. Keinesfalls dürfen die rechtlichen, sozialen und humanitären Errungenschaften unserer Ge- sellschaft aufs Spiel gesetzt werden! Gegen alle andersartigen Bestre- bungen von rechts, links oder auch aus der bürgerlichen Mitte muss Im offenen Jugendbüro M13 haben Jugendliche an der U18 Probewahl teilgenommen und Flagge gezeigt 118

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es unser erstes Anliegen bleiben, die Würde eines jeden Menschen zu schützen und dem Gemeinwohl zu dienen! Viele Probleme sind sowohl komplex als auch kompliziert. Sie lassen sich nur mit großer Anstren- gung und einem langen Atem lösen, nicht mit ausschließlichen Eigen- interessen und „völkischen“ Abgrenzungen, Feindbildern und Verschwö- rungstheorien, Hetze und Hass oder dem „Gift der einfachen Lösungen“. Als populistische Sammlungsbewegung Unzufriedener agiert die AfD jedoch auf diese Weise, den Regionen und Milieus angepasst: mal – vor allem im Westen – gemäßigt bürgerlich oder christlich konservativ, volkstümlich und familienfreundlich, dann aber auch – vor allem im Osten – Ängste und Vorurteile schürend, fremdenfeindlich und natio- nalistisch. Das sollte weiterhin aufmerksam beobachtet und entschie- den zurückgewiesen werden. Schließlich handelt es sich hierbei nicht um Nebensächlichkeiten, sondern um wesentliche Kriterien für Anstand und Menschlichkeit. Zudem halte ich es für infam, wenn Frau Susanne Hennig-Wellsow von den Linken davon spricht, dass die Bürger in Sachsen-Anhalt fast zu 60 Prozent rechts gewählt hätten, und Herr Oliver Kirchner von der AfD verharmlosend seine Partei und die CDU gemeinsam als konservativ be- zeichnet. Neben rechts und links gibt es auch noch eine Mitte, und auf die haben die meisten Wählerinnen und Wähler gesetzt. Deren Vertrau- en sollte die CDU als stärkste Kraft bei ihrer Koalitionssuche und Regie- rungsarbeit auch nicht verspielen. Das „Soziale mit dem Nationalen“ zu verbinden und sich der AfD anzunähern oder mit ihr in irgendeiner Wei- se zusammenzugehen, wie es einige CDU-Politiker in der Vergangenheit für möglich gehalten oder sogar angestrebt haben, würde ihre Glaub- würdigkeit schwer erschüttern. Dafür, das zu verhindern, steht aber Mi- nisterpräsident Dr. Haseloff mit seiner klaren Positionierung. Möge er sich darin auch durchsetzen! „Der Populismus“ – so habe ich einmal gelesen – „lebt von den Missstän- den, der Rest der Politik von deren Beseitigung.“ Insofern hoffe ich, dass baldmöglichst wieder eine stabile Regierungskoalition der Vernunft zu- stande kommt, die die gegenwärtigen Herausforderungen mit Klugheit und Elan angeht. Mögen in Sachsen-Anhalt auch weiterhin Solidarität, Weltoffenheit und ein friedliches Miteinander selbstverständlich sein. ´ 119

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„Gottes Bodenpersonal: Feige über Mut“ Kolumnen in Christ & Welt sowie ZEIT ONLINE Leithammel sind auch nur Schafe Wie geht man als Amtsträger mit Kritik um? N° 50 vom 3. Dezember 2020 „Herzlich willkommen im Kreis der Hinterbänkler der Deutschen Bi- schofskonferenz!“ So wurde ich nach meiner Weihe vor vielen Jahren von einem Mitbruder begrüßt, bezogen auf die hierarchische Sitzord- nung bei den Vollversammlungen. Inzwischen bin ich platzmäßig vor- gerückt und habe zugleich immer mehr erfahren, was es bedeutet, „für alles Krumme in der Kirche geradestehen“ zu sollen oder zu müssen. Dabei stellt sich manchmal die Frage, was eigentlich ein Bischof ist. Für staunende Kinder – selbst gehört – so etwas wie „der Nikolaus“ oder – säkularer eingefärbt – „ein Zauberer mit Zauberstab“. Journalisten hingegen beschreiben bischöfliche Aktivitäten überwiegend – verkürzt und zugespitzt – mit Worten wie: kritisie- ren, warnen, verurteilen, protestieren, bekämpfen oder fordern. Darüber hinaus soll ein Bi- schof Hirt und Fischer sein, Vater und Bruder, Freund und Trostspender, Diener und Lehrer. So heißt es jedenfalls in einem römischen Dokument. Sind das nicht zu hohe oder zu blumige Ideale, die einem erst einmal den Atem verschlagen? Aber nicht nur kirchliche Texte beschreiben der- artige Ansprüche. Auch viele Zeitgenossen – Christen wie Nichtchris- 120

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ten – haben die Vorstellung, ein Bischof müsste fast allen Erwartungen gerecht werden. Und so häufen sich Woche für Woche bei etlichen Bi- schöfen die Schreiben und Anrufe mit Vorwürfen, jämmerlich versagt zu haben, oder Forderungen, nun endlich die Kirche und die Welt zu retten. Nichts gegen konstruktive Kritik! Aber manchmal sind es auch unver- schämte Pamphlete. Da kann man sich gelegentlich schon vorkommen, als sei man Bischof von „Absurdistan“. Irgendjemand hat mir mal eine Karte mit der Aufschrift geschenkt: „Bei Licht besehen ist auch der Leithammel nur ein Schaf.“ Für mich ist das tröstlich. Einerseits hat ein Bischof den anderen Gläubigen zwar immer wieder voran- oder nachzugehen und sie – wenn es sein muss – auch anzutreiben. Andererseits gehört er wie sie selbstverständlich aber auch weiterhin zum Volk Gottes. In diesem Sinn hat schon der heilige Augustinus im Übergang vom 5. zum 6. Jahrhundert seine Aufgabe als Bischof in die Worte gefasst: „Wo mich erschreckt, was ich für euch bin, tröstet mich, was ich mit euch bin. Für euch bin ich Bischof, mit euch bin ich Christ. Jenes bezeichnet das Amt, dieses die Gnade, jenes die Gefahr, dieses das Heil.“ Das in die Tat umzusetzen und zu leben – für- und miteinander Kirche zu sein – erfordert Mut und Elan, Vertrauen und Zuversicht, nicht nur von den Bischöfen. Dabei sollte man sich nicht gegenseitig überfordern oder den guten Willen absprechen. Früher war nicht alles besser Warum Erneuerungen lästig, aber unumgänglich sind N° 1 vom 30. Dezember 2020 „Das haben wir schon immer so gemacht.“ Ironisch zugespitzt hat das Hubertus Schönemann von der Katholischen Arbeitsstelle für Missiona- rische Pastoral in Erfurt neulich einmal als die sieben letzten Worte der Kirche bezeichnet. Offensichtlich sind die Vorstellungen, die die meisten von Kirche haben, nachhaltig durch persönliche Erfahrungen und überkommene Traditio- 121

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nen geprägt. So etwas lässt sich nicht einfach abschütteln. Darum bleibt für viele das Erscheinungsbild der Kirche von gestern auch der Maß- stab für heute, fällt es anscheinend schwer, deren Gestalt inmitten der dramatischen Veränderungen unserer Welt neu zu denken, zu erhoffen und daran mitzuwirken. Stattdessen wird ihr Untergang beklagt oder herbeigeredet. Sicher hat das nicht nur mit konservativen oder nostalgischen Haltun- gen zu tun, sondern ist dabei auch Angst mit im Spiel: Angst davor, et- was nicht mehr im Griff zu haben und vielleicht sogar ganz zu verlieren, oder Neues wagen zu sollen, ohne zu wissen, wie es ausgeht. Aber Angst muss nicht nur kontraproduktiv sein, sie kann auch mutig überwunden werden und sogar schöpferische Veranlagungen befördern. Schließlich kennt die Geschichte keine Notwendigkeit, ist die Zukunft grundsätzlich offen und kann alles immer noch ganz anders kommen als befürchtet, erwartet oder geplant. Anregend kann auch sein, sich an frühere Entwicklungen zu erinnern, besonders an die Überwindung von Krisen oder Um- und Aufbrüche. Zudem hat die Kirche – so die christli- che Überzeugung – nicht nur eine sehr menschliche Dimension, sondern wesentlich auch mit Gott zu tun. Es gibt also gute Gründe, sich nicht krampfhaft an die Vergangenheit zu klammern, sondern sich den Zumutungen beherzt und tatkräftig zu stellen. Damit können Ängste und Blockaden überwunden und neue Wege beschritten werden. Auf keinen Fall ist ja das, was vom Zeitgeist früherer Jahrhunderte geprägt wurde, von vornherein besser als das, wozu uns heutige Er- fordernisse und Möglichkeiten führen könnten. Von Léon Bloy stammt der Aus- spruch: „Reformen in der Kirche kommen durch zweierlei: ent- weder durch den Heiligen Geist oder durch die Kosaken. Meist durch die Kosaken.“ Da ist in der Tat etwas dran. Oftmals muss 122

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der äußere Druck erst so groß sein, dass ihm nicht mehr widerstanden werden kann. Aber vielleicht wirkt Gottes Geist ja nicht nur auf direkte und feinsinnige Weise, sondern auch – wie Bloy sagt – durch die Kosa- ken, und das meint: auf ungewöhnlichen Umwegen oder durch feindli- che Mächte und Gewalten. Er scheint jedenfalls zu wissen, wie er uns, wenn wir uns nicht von selbst bewegen, zur Erneuerung bringen kann. Gefechte im Herzen Über die Suche nach sich selbst N° 5 vom 28. Januar 2021 „Gehe in dich! War ich schon; ist auch nichts los.“ Originell, was Karl Valentin da von sich gibt, nicht aber unbedingt allgemeingültig. Im Innern eines jeden Menschen tut sich schon einiges. So verläuft nach Alexander Solschenizyn etwa „die Linie, die Gut und Böse trennt, nicht zwischen Staaten, nicht zwischen Klassen und nicht zwischen Parteien (…), sondern quer durch jedes Menschenherz.“ Und diese bewegt sich. „Selbst in einem vom Bösen besetzten Herzen hält sich ein Brückenkopf des Guten. Selbst im gütigsten Herzen – ein uneinnehmbarer Schlupf- winkel des Bösen.“ Und nicht nur in unseren Herzen liefern sich Liebe und Hass manch- mal ein Gefecht, lodert es auf oder wird es eisig. Auch sonst haften uns Prägungen an, die vielen oftmals gar nicht bewusst sind, handeln wir befangen, ohne es wahrhaben zu wollen. Da gibt es Konservati- ve und Progressive, Liberale und Autoritäre, auch Wahrheitsfanatiker und Quertreiber. Andere verstehen sich eher als Vermittler, suchen nach Kompromissen und wünschen sich nichts sehnlicher als Harmonie. Zugleich wird inmitten eines weit verbreiteten Unschuldswahns ständig nach Sündenböcken gesucht, gilt es tagtäglich, sich vor anderen für irgendwelche Vergehen zu rechtfertigen. Nachdem Gott für viele nicht mehr existiert, sind wir nun gnadenlos uns selbst ausgeliefert. Und so findet das Jüngste Gericht bereits jetzt überall statt, vor allem in den Medien und im Netz. Wer Schwachstellen erkennen lässt oder eine un- liebsame Meinung vertritt, kann mit Spott und Hohn, wenn nicht gar mit Entrüstung und Verachtung rechnen. 123

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Warum verhalten wir uns so? Sicher nicht nur aus inhaltlicher Über- zeugung und rein freiheitlicher Selbstbestimmung. Zumeist sind per- sönliche und gesellschaftliche Erfahrungen mit im Spiel, Vorurteile und Missverständnisse, Interessen und Absichten; im kirchlichen Raum spricht man dabei von „nichttheologischen Faktoren“. Darum heißt es in den Geschichtswissenschaften auch: Studiere zuerst den Historiker, ehe du anfängst, seine angeblich objektiven Fakten zu studieren. Beachte dabei ebenso sein zeitliches und soziales Umfeld. Auch mir ist inzwischen immer bewusster geworden, wie sehr ich da- von geprägt bin, kurz nach dem II. Weltkrieg geboren zu sein, fast 40 Jahre als Diaspora-Katholik die DDR erlebt zu haben, seit der Jugendzeit beflügelt durch das II. Vatikanische Konzil. Ähnlich sind Westdeutsche durch ihre je eigene Entwicklung beeinflusst und nicht – wie manchmal angenommen – die Norm an sich. „Gehe in dich!“ Das erfordert Mut, könnte aber hilfreich sein, sich selbst noch besser zu erkennen und per- sönliche Eigenheiten einander einzugestehen. Was soll das ganze Fasten? Der eigene Verzicht ist eine Gabe für andere N° 8 vom 18. Februar 2021 „Das schlimmste Wort, das ich nach der Wende gelernt habe, heißt ‚Besitzstandswahrung‘!“ Mit einer solchen Einschätzung – sie stammt von Giselher Quast, dem ehemaligen Magdeburger Domprediger – begebe ich mich zweifellos auf ein Minenfeld. Dieser Begriff wird ja nicht nur tarifrechtlich gebraucht, sondern drückt auch eine weit verbreitete Anspruchsmentalität aus. „Verzicht“ ist da ein Unwort und wird höchstens, wenn äußere Umstände dazu zwingen, widerwillig erlitten. Eher erwartet man, in allen Lebensbereichen möglichst aus dem Vollen zu schöpfen, den Genuss sogar noch zu steigern und sich darin nicht einschränken zu lassen. Darum trauen sich auch Politiker kaum, darüber zu reden. Andererseits sind Menschen mit bestimmten Anliegen schon bereit, Verzicht zu üben: aus Protest oder Solidarität zu hungern, der Umwelt wegen den Energieverbrauch zu verringern, um Hochleistungen im 124

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Sport oder anderswo zu erreichen, sich Entbehrungen und Strapazen zu unterwerfen, um gesund, schlank und schön zu werden oder zu bleiben, auch zu fasten. Meistens handelt es sich dabei um einen nützlichen Selbstzweck. Am liebsten würde man sich aber nicht wirklich ändern wollen, sondern Alternativen – wie zum Beispiel Fleisch aus dem Labor – bevorzugen, „die keinerlei Verzicht bedeuten“. Das belegen auch Werbesprüche wie „Genuss ohne Reue“. Verzicht aber gehört zum Leben, bedeutet, Gewohntes zu hinter- fragen und Abhängigkeiten auf- zudecken, Mehreres abzuwägen und dann bewusst zu entschei- den, Freiheit auszuüben und Unsicherheiten zu ertragen. „Verzicht nimmt“ – wie Mar- tin Heidegger sagt – „nicht, sondern gibt“. Inzwischen ist diese individuelle Tugend fast zu einer gesamtgesell- schaftlichen Notwendigkeit gewor- den. Freilich gehört Mut dazu, sich auf sie einzu- lassen. Dabei ist nicht Hochmut gemeint, sich etwa narzisstisch oder arrogant als etwas Besseres zu dünken und von anderen abzusetzen. Vielmehr geht es um wahre Demut, den – wie es das Althochdeutsche nahelegt – „Mut zum Dienen“. Das aber bedeutet nicht „zu kriechen“, sondern sich und die anderen zugleich als endliche und bescheidene wie auch würdevolle und freiheitliche Vernunftwesen zu begreifen und danach zu leben. In einem Text der Fastenzeit heißt es: „Die Entsagung mindert in uns die Selbstsucht und öffnet unser Herz für die Armen.“ Verzicht tut also nicht nur einem selbst gut, sondern hat wesentlich auch einen sozialen Bezug, drückt Barmherzigkeit und Solidarität aus und steht im Zusam- menhang mit dem Gemeinwohl. Damit aber erhebt der zivilisierte oder religiös motivierte Mensch sich über seine natürlichen Veranlagungen und wirkt richtig schöpferisch. 125

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Schweigen ist Gold, Reden oft Blech. Öfter auf Worte zu verzichten täte gut N° 11 vom 11. März 2021 „Wenn du geschwiegen hättest, wärst du ein Philosoph geblieben.“ Offensichtlich scheint es – wie Boethius (5./6. Jh.) hier zum Ausdruck bringt – manchmal angemessener zu sein, nichts zu sagen als zu reden. Beispielhaft belegt dies auch eine Episode aus der biblischen Passions- geschichte, über die es in einem Lied heißt: „Du schweigst, Herr, da der Richter feige das ungerechte Urteil spricht.“ Und die Volksweisheit ver- allgemeinert derartige Verhaltensweisen sogar mit dem Spruch: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Wie heilsam es sein kann, konsequent auf das Edlere zu setzen, lässt der Kinofilm „Die große Stille“ (2005) mit seinem faszinierenden Fluidum erahnen. Aber ist so etwas nicht völlig gegenwartsuntauglich? Kommt es nicht heutzutage vielmehr darauf an, soviel wie möglich zu kommunizieren, um sich verständlich zu machen und andere zu verstehen, Krisen zu be- wältigen und Probleme zu lösen? Zweifellos ist der Mensch ein dialogi- sches Wesen und auf Worte angewiesen wie auf das tägliche Brot. Statt aber die Verständigung zu fördern, scheint die inzwischen auf uns ein- stürzende Flut von Worten und Informationen eher inflationäre Auswir- kungen zu haben und die Verwirrung noch zu vergrößern. Da wird nicht nur auf bisher übliche Weise geschrieben und gesprochen, sondern auch bis zum Überdruss interviewt und getalkt, digital sich ausgetauscht und interaktiv agiert. Zuviel Banalitäten und Redundanz, Phrasen und Floskeln gehören doch dazu, auch Agitation und Propaganda, Hass und Hetze. Zudem meinen immer mehr, überall – sogar ohne Ahnung davon – mitreden zu können und zu müssen. Selbst in den Kirchen entwickelt sich das. Auch Gott kann „totgeredet“ werden. Ist es nicht bezeichnend, dass in den letzten Jahrzehnten mehr religiöse und theologische Literatur erschienen ist als in den vorausgehenden neunzehn Jahrhunderten seit Christus? Und ich gestehe, mit dazu beizutragen. Seit einigen Jahren kann man außerdem fast alles lesen, was der Papst aktuell zu diesem oder jenem sagt. 126

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Einerseits ermöglicht das vielen, am Puls der Zeit zu sein, andererseits führt es auch dazu, nur noch wenig davon erfassen zu können oder manches bewusst zu überhören. Oftmals ist das sogar ein Schutz davor, nicht instrumentalisiert oder manipuliert zu werden. Wie soll man dieses Dilemma bewältigen? Nun, echte Kommunikation braucht auch ein kritisches Gespür dafür, wann es angebracht ist zu reden und wann zu schweigen – und den Mut für beides. Manchmal ge- nügen nur wenige Worte, um etwas zu bewirken, manchmal ist es aber auch klüger, ganz darauf zu verzichten, nicht jedoch gerechtfertigt, um etwas zu vertuschen. Vom Ende der Willkür Die Kirche sollte ihre Macht nicht autoritär gebrauchen N° 15 vom 8. April 2021 be- „Spektakel der Macht“, so lautete vor einigen Jahren der Titel einer Aus- stellung in Magdeburg. Dabei ging es um frühere Rituale kirchlicher und weltlicher Amtseinsetzungen. Damals war es für mich noch ungewohnt, auch Bischofs- und Priesterwei- hen oder „Papstkrönungen“ – statt gründet – überwiegend nach ganz theologisch profanen Kriterien als Machtüber- tragungen zu betrachten. Lange wurde dieser Aspekt ja auch inner- kirchlich tabuisiert oder spirituali- siert und stattdessen von „geistli- chen“ Ämtern und Diensten oder Leitungsaufgaben gesprochen. Inzwischen hat sich aber das Blatt gewendet, debattieren viele nunmehr leidenschaftlich über klerikalen Machtmiss- brauch und dringend not- wendige Konsequenzen. Auch wenn Macht schon immer umstritten war, ge- hört sie doch selbstverständlich in unsere Welt und tritt vielfältig in 127

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Erscheinung. Wer Macht bewusst oder unbewusst ausübt, ist in der per- sönlichen oder strukturellen Lage, andere Menschen zu führen und sich dabei für deren Würde und Lebensbedingungen einzusetzen. Manchmal müssen dazu aber auch bestimmte Rechte eingeschränkt werden, um größere Schäden abzuwehren und die Freiheit zu verteidigen. Macht ist also ambivalent. Der, der sie hat, empfindet sie anders als der, der sie nicht hat. Darum wird sie in einer Demokratie auch begrenzt und kontrolliert. Viele Menschen – besonders „Alphatiere“ – sind begierig nach Macht, andere empfinden sie eher als Last, schrecken davor zurück oder verteu- feln sie sogar. Wie schnell kann Macht auch korrumpieren. Treffend hat Abraham Lincoln dazu bemerkt: „Willst du den Charakter eines Men- schen kennenlernen, gib ihm Macht“. Davon angezogen werden ja nicht nur sozialethisch gesinnte Persönlichkeiten, sondern auch zwielichtige Karrieristen, bisweilen sogar Scharlatane und Intriganten. Andererseits kann bei einem Machtvakuum schnell Willkür um sich greifen und Cha- os entstehen. Deshalb ist es wichtig, Macht anzunehmen, wenn man sie übertragen bekommt, zugleich aber geboten, sie verantwortungsbe- wusst auszuüben. Um nichts anderes geht es auch in der katholischen Kirche, selbst wenn deren „hierarchische“ Strukturen letztlich auf Gott zurückgeführt wer- den. Das berechtigt ja nicht zwangsläufig, diese autoritär zu gebrauchen. Also muss ernsthaft und mutig wieder einmal darüber nachgedacht werden, wozu Macht in der Kirche eigentlich dient, wie man mit ihr evangeliumsgemäß – zum Beispiel durch Gewaltenteilung – umzugehen hat und wie sie kontrolliert werden kann. Alles jedoch als „Machtkampf“ anzusehen, wäre überzogen. Zwischenmenschliche Beziehungen und kirchliche Umgangsformen sind erfreulicherweise reichhaltiger. Mehr Demokratie für Katholiken Auch die Kirche muss Mitbestimmung aushalten können N° 19 vom 6. Mai 2021 Viele erhoffen, die katholische Kirche durch eine Demokratisierung aus ihrer gegenwärtigen Krise herausführen oder wenigstens zu einem glaubwürdigeren Zustand bringen zu können. Andere bestreiten dies 128

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vehement und betonen, dass eine göttliche Stiftung wie sie weder Mo- narchie noch Demokratie sei, sondern eigenen Regeln zu folgen habe. Schließlich fragen sich manche, ob das „Demokratie-Modell“ angesichts seiner deutlich wahrnehmbaren Schwächen und Gefährdungen über- haupt noch empfohlen werden könne. Zweifellos ist die Demokratie – so haben es ehemalige DDR-Bürger nach 1989 erfahren – „grauer als der Traum von ihr“, anspruchsvoll und anstrengend, nicht unbedingt ein Paradies oder Schlaraffenland. Vielmehr sind Ver- antwortungsbewusstsein und En- gagement gefragt. Zugleich kann Demokratie missbraucht oder untergraben werden. Dazu führe man sich bloß ihre populistische Entstellung durch das autoritäre Gebaren von Machthabern wie Trump oder Orban vor Augen. Andere Möglichkeiten, sie sogar zugrunde zu richten, wären politische Umstürze, Katastrophen – wie auch eine Pande- mie – oder technologische Übernahmen durch sozi- ale Netzwerke. Da sind Wachsamkeit und Zivilcourage vonnöten, auch die konsequente Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols. Kein Wunder, dass Winston Churchill die Demokratie für „die schlech- teste aller Staatsformen“ gehalten hat – „ausgenommen alle anderen“. Im Klartext heißt das wohl: Es gibt keine bessere. In ihr können alle freien Bürger und Bürgerinnen direkt oder indirekt mitreden und miten- tscheiden. Freilich hat oder bekommt nicht jeder und jede Recht, muss – manchmal hart und leidenschaftlich – um Mehrheitsbeschlüsse ge- rungen werden. Ebenso ist es aber wichtig, Andersdenkende mit im Blick zu behalten und unterschiedliche Interessen möglichst auszugleichen. In totalitären oder diktatorischen Systemen jedoch haben immer nur einzelne Personen oder bestimmte Gruppen das Sagen und die Macht. 129

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Demokratie bietet also viele Chancen, menschenwürdiger als in anderen Gesellschaftsformen miteinander umzugehen. Lange Zeit haben sich die Kirchen schwergetan, dies anzuerkennen. Heute hingegen befürwor- ten sie demokratische Verhältnisse in allen Bereichen politischen und bürgerlichen Lebens sogar ausdrücklich. Warum sollte sich die katholi- sche Kirche nicht auch selbst mehr und mutiger darauf einlassen? Dazu müsste sie ihr Proprium durchaus nicht aufgeben. Schließlich wird auch in einem freiheitlich-demokratischen Staat nicht über alles abgestimmt, gibt es fundamentale Voraussetzungen, oberste Werte und wesentliche Rechte, die einzuhalten und einklagbar sind. Wovor sich also fürchten? Glauben ist ein Risikogeschäft Warum jenseits der Gewissheit die Fülle des Lebens wartet N° 23 vom 2. Juni 2021 „Wenn man sieht“ – so hat es Christa Nickels von den Grünen einmal formuliert – „was die Politiker den Wissenschaftlern alles glauben, dann sind die Teilnehmer an einer Marienprozession staubtrockene Realis- ten!“ In der Tat! Wer kann schon alles wissen oder jede Behauptung und jeden angeblichen Beweis selbst überprüfen. Stattdessen sind wir alle in vielem darauf angewiesen, anderen zu vertrauen und ihnen zu glauben. Ohne jeglichen Glauben würde man sogar verkümmern. Die Wirklichkeit mathematisch-naturwissenschaftlich zu erfassen, ist eine Zugangsweise; ihr ganzheitlich zu begegnen, eine andere. Vor allem betrifft das unsere menschlichen Beziehungen. Warum fühlen wir uns gerade zu diesem oder jener besonders hingezogen? Da zählen doch nicht in erster Linie messbare Fakten. Sympathie und Liebe setzen viel tiefer an und lassen sich nur bedingt erklären. Natürlich kann man dabei enttäuscht und betrogen werden. Doch wer anderen sein Leben lang nicht nur misstrauisch begegnen will, kommt nicht umhin, Vertrauen und Glauben zu riskieren. Noch spannender, radikaler und folgenreicher wird es, wenn jemand anfängt, sehr grundsätzlich über unsere Welt nachzudenken, wenn sich eine Ahnung einstellt, dass das oberflächlich Erkenn- und Berechenbare nicht alles sein dürfte. An dieser Stelle kommt seit alters her die Religion ins Spiel, der Glaube an höchste Wesen, unpersönliche Schicksalsmächte 130

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oder einen einzigen Gott. Auch heute sagen viele trotz aller Skepsis: „Ich glaube schon, dass es da noch irgendetwas geben muss!“ Darüber hinaus glauben wir Christen sogar an jemanden, zu dem man ehrfürchtig und liebevoll „Du“ sagen kann, an einen Gott, der sich uns in Jesus Christus offenbart und damit „angreifbar“ gemacht hat. Umfra- gen zufolge scheinen wir dabei jedoch nicht sehr homogen zu sein. Welche abstrusen, synkretistischen oder aber- gläubischen Vorstellungen sind doch auch unter Christen anzutreffen! Daneben gibt es verständlicherwei- se den suchenden, zweifelnden, dunklen und angefochtenen Glau- ben, aber auch den, der Gewissheit verleiht, Zuversicht vermittelt und Mut macht. Die Vernunft zu gebrauchen, steht dazu nicht im Widerspruch, sondern ist angesichts erstarkender Fundamentalisten und Fanatiker nötiger denn je. Darauf verweist auch der tschechische Religionsphilosoph Tomáš Halík, wenn er sagt: „Ich habe keine Angst vor Menschen, die nicht glauben, sondern vor Menschen, die nicht denken.“ Unabhängig davon, ob und woran letztlich alle Menschen glauben, sollten Christen wie Nichtchristen in diesem Sinn sich noch mehr für eine Koalition der Vernünftigen einset- zen. 131

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„Die letzten 24 Stunden“ aufgezeichnet von Björn Eenboom in: Cicero. Magazin für politische Kultur vom Juni 2021 Fotografiert von Maurice Weiss In dem kultur-politischen Magazin erscheinen in der Rubrik „Salon“ in unregelmäßigen Abständen Berichte von Prominenten zu der Frage: „Sie erfahren, dass sie in 24 Stunden sterben werden. Wie verbringen Sie die letzten 24 Stunden ihres Lebens?“ Auch wenn ich ein gläubiger Mensch bin, fällt es mir nicht leicht, von der Welt Abschied zu nehmen. Schließlich ist Sterben keine Komödie, sondern eine todernste Angelegenheit. Dazu habe ich sehr persönliche Erfahrungen mit Sterbenden, die friedlich eingeschlafen sind oder zu kämpfen hatten, bei denen es schnell und schmerzlos ging oder die sich lange quälen mussten. In Erinnerung ist mir, bereits während meiner Dissertationsphase – psychosomatisch bedingt – schon einmal gedacht zu haben, es ginge mit mir zu Ende. Und dann kommen mir die zahlreichen kleinen und großen, vorläufigen oder endgültigen Abschiede von Menschen und Tieren, Träumen und Idealen oder Plänen und Vorhaben in den Sinn, von denen viele wie ein kleines Sterben waren. Vergessen habe ich auch nicht, dass ich nach dem Abitur dachte, nun- mehr keine Prüfungen mehr absolvieren zu müssen. Von wegen! Es folg- ten theoretische und praktische, vor allem aber existentielle. Und nun stehe ich vor der allerletzten und schwerwiegendsten Prüfung. Fragen über Fragen steigen in mir auf. Warum gerade heute? Wieso muss es mich jetzt schon treffen? Und auf welche Weise wird mich der Tod er- eilen? Anderen und mir möchte ich nicht zumuten, darüber zu klagen. Darum behalte ich mein Wissen, wie ich es auch schon in der Kindheit bei manchen Verletzungen und Krankheitssymptomen getan habe, für mich. Äußerlichkeiten spielen von nun an kaum noch eine Rolle. Ich bleibe da, wo ich wohne, und unternehme einen letzten Spaziergang in der 132

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Natur. Vor meinem geistigen Auge läuft mein Leben ab. Ich weiß, dass ich daran nichts mehr ändern kann, möchte es auch nicht. Obwohl ich zunächst fast vierzig Jahre in einer Diktatur verbracht habe, bewegt mich insgesamt doch eine große Dankbarkeit. Wie viele liebenswürdige Menschen durfte ich kennen und schätzen lernen! Welche Möglichkeiten hatte ich zudem, mich kreativ zu entfalten und für andere einzusetzen, als Mensch und Priester, als Theologe und Bischof! Darum bedrückt es mich auch, alles so plötzlich verlassen zu müssen. Zugleich bedaure ich diejenigen, die sich um meinen Nachlass zu küm- mern haben. Leider ist es mir nicht gelungen, diesen rechtzeitig zu ver- kleinern. Andererseits bin ich erleichtert, bald von Verantwortung und Verpflichtungen frei zu sein. Am Abend gehe ich noch einmal beichten, weil ich auch um mein Versa- gen weiß, und feiere dann die Eucharistie in unserer Kathedrale mit. An- schließend kredenzt mir meine Haushälterin „Paglia e fieno“ mit Sahne- Pilz-Sauce und zum Dessert Zabaione. Auf die Anzahl der Kohlehydrate brauche ich nun nicht mehr zu achten. Bei meinem Requiem soll die christliche Hoffnung auf das ewige Leben sinnenträchtig zum Ausdruck gebracht werden, auch musikalisch, etwa durch Stücke von Händel oder Telemann, den orthodoxen Gesang „Wetschnaja Pamjat“ und das Lied „Großer Gott, wir loben dich“. Konkrete Vorstellungen von der Vollendung bei Gott habe ich nicht, wohl aber die Hoffnung, den Sinn von allem dann wie bei einem hand- geknüpften orientalischen Teppich von seiner Oberseite erkennen und nicht wie bisher nur von seiner verwirrenden Unterseite erahnen zu können. 134