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Bischofspredigt bei DBK-Vollversammlung"Im Gesicht des anderen den Bruder erkennen"
Predigt von Bischof Dr. Gerhard Feige im Gedächtnisgottesdienst für die verstorbenen Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz im Rahmen der Frühjahrs-Vollversammlung im Kloster Steinfeld, Bistum Aachen.
Erscheinungsdatum: 13. März 2025
„ … das tut auch ihnen!“
Ein gerechtes und menschenfreundliches Miteinander ist kein Selbstläufer; es braucht Regeln und Grundsätze, an denen es sich orientieren kann. In den Schriften der Bibel ist diese Einsicht tief verwurzelt; immer wieder finden wir dort Einblicke in das Ringen um eine Lebensweise, die zuerst in einer Beziehung mit Gott wurzelt und zugleich im alltäglichen Umgang mit den anderen Menschen Ausdruck finden soll. Gerade haben wir dazu aus dem Buch Levitikus einige Anweisungen gehört. Und das Evangelium bekräftigt: In einem respektvollen Umgang „besteht das Gesetz und die Propheten“. „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen!“ Diese sogenannte Goldene Regel, die gewissermaßen alle Einzelbestimmungen einsammelt, hat sogar – nur etwas anders formuliert – in unserem Sprachschatz Eingang gefunden: „Was du“ – so heißt es da – „nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu.“ Um das für einsichtig zu halten, muss man nicht unbedingt christlich sein. Es ist wohl – davon bin ich überzeugt – allgemein nachvollziehbar.
Würde das umgesetzt, sähe es in unserer Welt schon viel besser aus. Der Blick in die vergangenen und gegenwärtigen Krisen und Konflikte und auf unser gesellschaftliches Zusammenleben lässt jedoch ernüchternd feststellen: Als allgemeiner Grundsatz konnte sich die Goldene Regel nie durchsetzen. Und da müssen wir bei uns selbst anfangen. Nicht einmal in der Kirche – das machen die Verletzungen, die auch hier und im Namen des Glaubens geschehen sind, offensichtlich – ist darauf Verlass.
Immer schon konkurriert die Goldene Regel mit anderen Handlungsprinzipien. Da lässt sich beispielsweise an Berthold Brechts „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ denken, oder an das aus dem Geschäftsleben vertraute „Eine Hand wäscht die andere“. Diese Lösung ist mit Donald Trump auch auf die weltpolitische Bühne zurückgekehrt. In der DDR war das sogenannte „Vitamin B“ – also Beziehungen zu haben, um an bestimmte Dinge oder Leistungen zu kommen – besonders wichtig. Aus der Not und dem Zwang heraus war es fast unumgänglich, sich auf diese Art der Vorteilsnahme einzulassen. Aber auch solche Parolen wie „privat geht vor Katastrophe“ oder „wir zuerst“ zeugen von überzogenem Individualismus und sozialem Desinteresse.
Wahrhaft menschlich miteinander umzugehen, sieht freilich anders aus. Dabei meine ich sogar Steigerungsmöglichkeiten erkennen zu können. Als ein Mindestmaß zwischenmenschlichen Verhaltens gilt wohl der Anstand, „eine grundsätzliche Solidarität mit anderen Menschen, ein Empfinden dafür, dass wir alle das Leben teilen, ein Gefühl, das für die großen und grundsätzlichen Fragen des Lebens ganz genauso gilt wie für die kleinen, alltäglichen Situationen“(1). Sich für die Mitmenschen wirklich zu interessieren, überbietet dieses Mindestmaß um einen weiteren Aspekt und lässt den Anderen und die Andere in ihrer ganz besonderen Einzigartigkeit zur Geltung kommen. Menschen in Ehrfurcht zu begegnen, bedingt darüber hinaus zusätzlich, allen die gleiche Würde als Abbilder Gottes zuzuerkennen. Daraus könnte folgen, – was Jesus nach der Liebe zu Gott für genauso wichtig hält – „den Nächsten zu lieben wie sich selbst“ (Mt 22,39). Denn auch unter gerechtesten Verhältnissen fehlt noch Wesentliches, wenn Liebe und Barmherzigkeit, Vertrauen und Mitgefühl nicht hinzukommen. Und schließlich zeigt sich in der Bereitschaft, sich für andere gewissermaßen aufzuopfern, die wohl radikalste Form menschlicher Selbstlosigkeit, wie sie auf unüberbietbare Weise in Jesus Christus zum Ausdruck gekommen ist.
Vielen von uns ist sicherlich in Erinnerung geblieben, dass die anglikanische Bischöfin Mariann Edgar Budde während des Gottesdienstes im Rahmen der Vereidigung des neuen Präsidenten der USA, Donald Trump, an dessen Barmherzigkeit appellierte: „Im Namen Gottes bitte ich Sie, haben Sie Erbarmen mit den Menschen in unserem Land, die Angst haben“. Sie hätte ihn auch um Gerechtigkeit bitten und sich dabei auf denselben Gott berufen können, in dem Gerechtigkeit und Barmherzigkeit untrennbar zusammenfallen.(2) Barmherzigkeit hebt den Grundsatz der Gerechtigkeit nicht auf; vielmehr bereitet sie den Boden für gerechtes Handeln und eine gerechte gesellschaftliche Ordnung. Stattdessen wird in jüngster Zeit jedoch die prinzipielle Gleichheit aller Menschen, die in der Goldenen Regel ihren Ausdruck findet, zunehmend in Frage gestellt und immer mehr unterschieden und abgestuft. Nächstenliebe vollzieht sich nun höchstens in konzentrischen Kreisen und impliziert eine Rangordnung: „zuerst die eigene Familie (…), dann den Nachbarn, dann die Gemeinde, dann das eigene Land – und erst danach kann man sich auf die ganze Welt konzentrieren.“ So hat es der Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Amerika kürzlich definiert. Und den Kirchen wird in diesem Zusammenhang gelegentlich vorgeworfen, den Eindruck zu erwecken, jegliche Überlegungen und Abwägungen, inwiefern Migration doch zugunsten der eigenen Bevölkerung eingeschränkt werden müsse, in naiver und überheblicher Weise als unchristlich zu verwerfen. Zugleich wird das Verhältnis von Kirche und Politik konträr diskutiert und bewertet.
Solche Stimmen, die die Kirche dazu ermahnen, sich ausschließlich zu vermeintlich rein religiösen Themen zu äußern, übersehen, dass sich eine Trennung von weltlich und geistlich für uns Christinnen und Christen nicht vollziehen lässt. Gesellschaftlich geht es in allen Bereichen um die Gestaltung von menschlichem Leben und menschlichem Zusammenleben, oft auch um menschliches Überleben. Das aber kann uns als Kirche nicht gleichgültig lassen. Deshalb sehen wir es nicht als eine Grenzüberschreitung an, sich in grundsätzlichen Fragen mit einzumischen. Dabei lassen wir uns aber nicht einfach auf eine „Moralinstanz“ reduzieren. Über moralische Leitvorstellungen hinaus eröffnet der christliche Glaube eine befreiende Lebensperspektive, aus der dann freilich auch eine neue Lebensweise folgt. In diesem Sinn ist er nicht nur Privatsache, sondern auch von öffentlichem Interesse. Dabei äußern sich die Kirchen auf der Basis des christlichen Menschenbildes nicht, um Tagespolitik zu betreiben oder für einzelne Herausforderungen Lösungen anzubieten. „Ihren Auftrag und ihre Kompetenz sehen sie (vielmehr) vor allem darin, für eine Wertorientierung … einzutreten, in deren Zentrum die Würde jedes Menschen, die Achtung der Menschenrechte und die Ausrichtung am Gemeinwohl stehen.“(3) Insofern bagatellisieren wir auch nicht die Probleme, die Migration hervorrufen kann, plädieren aber dafür, dass die Maßnahmen, die zur Regulierung notwendig erscheinen, auch realistisch, wertebasiert und rechtskonform sind – und nicht illusionär, populistisch und willkürlich.
Zweifellos gibt es kein Christentum ohne Liebe und Barmherzigkeit. Beides gehört gewissermaßen zu seiner DNA. Vor diesem Hintergrund hat für mich auch die Aussage Heinrich Bölls bleibende Aktualität: „Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen vorziehen.“(4) So hat er, der unverdächtig war, anderen nach dem Mund zu reden, schon früh als Gewissen der Gesellschaft galt und in dieser Rolle auch kirchliche Würdenträger von seiner Kritik nicht ausnahm, einmal auf die Frage „Was halten Sie vom Christentum?“ geantwortet und ergänzt: In einer vom Christentum geprägten Welt „gibt es Raum für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache“.
Liebe Schwestern und Brüder, ein alter Rabbi fragte einst seine Schüler, wie man die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt. „Ist es, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“, fragte einer seiner Schüler. „Nein“, sagte der Rabbi. „Ist es, wenn man einen Apfelbaum von einer Birke unterscheiden kann?“, fragte ein anderer. „Nein“, sagte der Rabbi. „Aber wann ist es dann?“, fragten die Schüler. „Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und darin deine Schwester oder deinen Bruder siehst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“
„Im Gesicht irgendeines Menschen die Schwester oder den Bruder sehen“: das ist in der Tat gewissermaßen die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Menschen und der Völker. Dafür steht auch die Goldene Regel: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen!“ Dazu aber passen nicht Hetze und Hass, Intoleranz und Gewalt. Dazu passt keine Ideologie, die auf Selektion setzt, den Stärkeren verherrlicht und all diejenigen abwertet, die „anders“ oder scheinbar „nutzlos“ sind. Menschenwürde und Menschenrechte sind unteilbar. Als Christen und Christinnen können wir hier nicht schweigend zuschauen. Wenn wir aber im Gesicht eines anderen Menschen die Schwester und den Bruder zu erkennen vermögen, dann werden wir auch Möglichkeiten finden, selbst tatkräftig dazu beizutragen, dass die Leben stiftende Kraft des Evangeliums einen noch deutlicheren Ausdruck im menschlichen Miteinander findet.
Lesung: Lev 19, 13–18
Evangelium: Mt 7, 7–12
Fußnoten:
1. Axel Hacke, Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage; wie wir miteinander umgehen (München 2017) 157.
2. Reinhard Marx, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, in: Anzeiger für die Seelsorge 1/2016, 5–8.
3. Demokratie braucht Tugenden. Gemeinsames Wort der der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz vom 20.11.2006, 6.
4. Heinrich Böll, „Eine Welt ohne Christus“, in: Karlheinz Deschner (Hg.), Was halten Sie vom Christentum? 18 Antworten auf eine Umfrage (München 1957) 21–24, 22.
Quelle: Bistum Magdeburg, Pressestelle, presse@bistum-magdeburg.de, 0391-5961134