tdh
Foto: Andreas Gäbler
Die Dresdner Kapellknaben waren 2024 Teil einer ökumenischen Pilgergruppe, die in Rom den Papst traf.
Als besonnenen Reformer und als menschennahen Prediger, der das Evangelium für alle verständlich verkündigen wollte, würdigen ostdeutsche Bischöfe den verstorbenen Papst Franziskus. Sie sind sich einig: Manche Früchte seines Wirkens werden sich erst später zeigen.
Bei Bischof Heinrich Timmerevers hat bleibenden Eindruck hinterlassen, wie gut Papst Franziskus über die Situation der Kirche im Bistum Dresden-Meißen informiert war. Beim Besuch einer ökumenischen Pilgergruppe aus Sachsen im vergangenen Jahr habe er die Pilger beispielweise ermutigt, auf Gott zu vertrauen, der das menschliche Denken übersteigt und mit ihrem Leben Zeichen der Hoffnung zu setzen. Dabei erinnerte er auch an die Erfahrung bei der Friedlichen Revolution: „Im Oktober 1989 habt ihr eine Ahnung davon bekommen, als es einigen evangelischen und katholischen Christen in Dresden gelang, der Polizei entgegenzutreten. Es war wie ein Wunder, dass damals kein einziger Schuss fiel, und sich in der Folge ein friedlicher Weg auch in anderen Städten auftat, den niemand für möglich gehalten hätte.“ Als wegweisend hob der Dresdner Bischof außerdem die in Deutschland kaum wahrgenommenen Schritte hervor, die Franziskus in der Versöhnung mit dem Islam gegangen sei.
Der Berliner Erzbischof Heiner Koch erinnert sich gern an die Familiensynode mit Papst Franziskus und an dessen eindringliches Ringen darum, wie die christliche Verkündigung eine frohe Botschaft für Familien bleiben könne. „Ich durfte ihn in den drei Wochen der synodalen Beratungen täglich und tatsächlich als Heiligen Vater erleben, der alle Menschen im Blick behielt, einen jeden und eine jede mit den ganz unterschiedlichen Problemen, Charismen und Sichtweisen.“ Franziskus habe der Kirche und der Welt eine Botschaft gegeben, die das Besonderes, Schöne und Frohmachende in Ehe und Familie bezeugt.
Seine besondere Menschennähe hebt auch der Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr hervor: „Ich bin ihm besonders dankbar für seinen Hinweis darauf, dass die Sakramente nicht Belohnung für die Gerechten sind, sondern Heilmittel für die Sünder.“
Franziskus habe immer wieder Dinge beim Namen genannt und versucht, das Evangelium mutmachend, unkonventionelle und leidenschaftlich zu verkünden, schreibt Bischof Gerhard Feige aus Magdeburg. Dabei habe er Kritik geübt am ungebändigten Kapitalismus und Wirtschaftsliberalismus, dem unverantwortlichen Umgang mit der ganzen Schöpfung, allem Krieg und jeglichem Extremismus, aber auch an innerkirchlichem Klerikalismus und überzogenem Traditionalismus. Barmherzigkeit sei seine persönliche Grundhaltung gewesen. Darum habe er alle Christen ermutigt, an die Ränder der Gesellschaft zu gehen und sich auch der Unvollkommenheit der Kirche bewusst zu sein, die nicht nur heilig, sondern auch „zerbeult“ ist, weniger ein „Haus voll Glorie“ als ein „Feldlazarett“.
Mit ihm sei wieder viel Bewegung in die Kirche gekommen und wieder über „heiße Themen“ geredet worden. Die Folge davon sei freilich gewesen, dass sich „die Geister schieden“ und auch Widerstand gegen ihn aufkam. Auch wenn er manche drängenden Reformanliegen nicht so vorangetrieben habe, wie viele es erwarteten, könne man es als sein Verdienst ansehen, die katholische Kirche auf einen unumkehrbaren Weg zu mehr Synodalität und Erneuerung gebracht zu haben.
Die ostdeutschen Bischöfe würdigen Papst Franziskus
Fotos: Katharina Semrau
Von der ostdeutschen in eine noch extremere Diaspora: nach Finnland. Eine Reise zu Katholiken, die noch größere Herausforderungen meistern müssen, als die Gläubigen hierzulande. Das tun sie mit einer großen Portion Gottvertrauen.
Es ist ungefähr fünf oder sechs Jahre her, da stand ich im Garten eines guten Freundes. Wir kennen uns schon sehr lange: Wir wuchsen im gleichen Dorf im Bistum Magdeburg auf, waren im gleichen Kindergarten, hatten zusammen Erstkommunion und waren jahrelang ein eingespieltes Ministrantenteam. Mittlerweile wohne ich im Bistum Erfurt, doch das änderte nichts an unserer Freundschaft. An diesem Abend beobachteten wir die Sonne, die gerade am Horizont unterging. Von einer fernen Baumreihe aus erhoben sich einige Vögel in die Luft und schwebten geräuschlos durch den orangefarbenen Himmel. Es war ein warmer, entspannter Sommerabend, die Stimmung gelöst. Umso mehr überraschte mich der weitere Verlauf unseres Gesprächs.
Mein Freund war vor Kurzem Vater geworden und ich fragte ihn, wann denn die Taufe sei. Die Antwort verblüffte mich: Grundsätzlich solle sein Sohn schon irgendwann getauft werden. Doch derzeit sei in unserer alten Gemeinde kaum Leben. Für die Kinder und die Jugendlichen werde zu wenig angeboten. So mache Glauben wenig Spaß. Sein Kind solle daher erstmal nicht getauft werden. Sollte sich die Situation ändern, werde er es sich überlegen.
Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Meiner Einschätzung aus der Ferne nach hatten wir doch eine aktive Gemeinde. Klar, nicht mehr so wie früher, aber doch noch wesentlich lebendiger als anderswo. Und selbst wenn es gerade nicht so gut läuft, kann Resignation ja keine Lösung sein.
Doch wir merken wohl alle die Veränderungen in unseren Kirchengemeinden: Pfarreien werden zusammengelegt, es gibt weniger Priester und Gemeindereferentinnen, Gottesdienste finden seltener und mit weniger Menschen statt, manch Tradition können wir nicht aufrechterhalten. Gerade in der Diaspora ist das umso spürbarer. Wer kann also verdenken, wenn jemand daraus Konsequenzen zieht?
In einem Land (fast) ohne Katholiken
Dieses Gespräch fiel mir vor einer Weile wieder ein. Denn auch in meiner neuen Gemeinde stehen Veränderungen an, die Zukunft ist ungewiss. Allerdings bin ich überzeugt: Trotz der schwierigen Lage wird weiterhin katholisches Gemeindeleben möglich sein. Und während wir beim Umgang mit den neuen Begebenheiten oft auf die Zeiten schauen, in denen die Gottesdienste voller und mehr Menschen katholisch waren, wollte ich etwas anderes ausprobieren. Ich würde ein Land erkunden, in dem noch weniger Menschen der katholischen Kirche angehören als bei uns. Doch wohin sollte es gehen?
Mir kam der Zufall zu Hilfe. Ich wollte schon immer Polarlichter sehen. Im März hatte ich Zeit und die Chancen auf Aurora-Sichtungen waren groß. Da ich noch nie in Finnland war, recherchierte ich und fand heraus, dass es nicht nur prädestiniert für die Beobachtung von Nordlichtern ist, sondern dass es dort auch kaum Katholiken gibt. Seit der Reformation ist Skandinavien protestantisch, katholisches Leben existierte jahrhundertelang so gut wie nicht. Dennoch, das ergab meine weitere Suche, gibt es lebendige Gemeinden.
Das wollte ich erleben! Eine Messe am Polarkreis und wenn ich die Kirche verlasse, tanzen am Himmel die Polarlichter – so stellte ich es mir vor. Schnell hatte ich die E-Mail-Adresse von Pater Matthew ausgemacht, dem zuständigen Pfarrer für meine Urlaubsregion. Ich schickte ihm die Daten, wann ich wo sein würde, und fragte nach einer Messe. Die schnelle Antwort war erfreulich und ernüchternd zugleich: Es findet eine katholische Messe in einer orthodoxen Kirche statt, doch der Ort liegt 200 Kilometer von meiner Unterkunft entfernt.
Ich sprach mit meinen beiden Mitreisenden und schnell war klar, dass wir die Erfahrung machen wollten: Zweieinhalb Stunden Fahrt durch winterlich verschneite Landschaft für einen finnischen Gottesdienst, von dem wir wahrscheinlich kein Wort verstehen würden. Wir waren gespannt.
Erste Eindrücke und faszinierende Erlebnisse
Den Anfang unserer Finnland-Reise verbrachten wir in Helsinki. Die Metropole spiegelt die konfessionelle Situation im Land wider: Das Zentrum wird vom protestantischen Dom beherrscht, einen kurzen Spaziergang entfernt steht die aus roten Ziegelsteinen erbaute Uspenski-Kathedrale, das größte orthodoxe Gotteshaus der westlichen Welt. Die katholische Kirche liegt versteckt etwas außerhalb. Das Gebäude ist nicht viel größer als die meisten unserer Dorfkirchen, doch es ist Bischofssitz und damit Kathedrale. Während vor den anderen bedeutenden Gotteshäusern viel Trubel herrschte, verlief sich kaum ein Tourist in diese Gegend, einige Menschen waren ins Gebet vertieft.
Mit dem Zug fuhren wir am dritten Tag Richtung Norden und Polarkreis. Die traumhaft winterliche Landschaft ließ uns bereits die Weite und Schönheit des Landes erahnen, wie wir sie in den nächsten Tagen erleben durften: Auf Schneeschuhen wanderten wir durch unberührte Landschaften und überquerten zugefrorene Seen. Wir machten eine Huskyschlittenfahrt und eine finnische Familie stellte uns ihre Rentierfarm vor. Nördlich des Polarkreises wanderten wir durch arktische Moore, nachdem wir zuvor zugefrorene Wasserfälle bestaunt hatten. Ein Besuch im berühmten Weihnachtsmanndorf durfte nicht fehlen, obwohl es uns aufgrund des im Vordergrund stehenden Kommerzes eher ernüchterte.
Über all dem stand das nächtliche Wunder der Polarlichter. Bereits als wir am ersten Abend unsere Unterkunft mitten in der Natur erreichten, begann die Aurora über uns am Firmament zu tanzen. Mit wechselnder Intensität leuchtete der Himmel in grünen Farben, das Nordlicht überstrahlte oftmals die Sterne. Trotz teilweise -31 °C waren wir fasziniert und erfuhren die Schönheit der Schöpfung auf bisher unbekannte Weise.
Weite Anreise und ein freundliches Willkommen
Schließlich wurde es Sonntag. Die Messe und eine lange Autofahrt standen auf dem Programm. Trotz verschneiter Straßen kamen wir pünktlich in der Stadt Kemi an. Hier leben rund 22 000 Menschen an einem der nördlichsten Punkte der Ostsee an der Grenze zu Schweden. Vor der kleinen, schönen orthodoxen Kirche erwartete uns bereits Pater Matthew. Der recht junge Priester erzählte mir, dass er aus Malta stamme und somit wie die meisten katholischen Priester nicht aus Finnland sei. Die Diaspora-Situation, so berichtete er weiter, sei schon herausfordernd. Von seinem Dienstsitz Oulu aus betreue er vier Kirchen, in denen er jeweils ein Mal im Monat Messe halte. Die Fahrtzeiten seien stets lang, die Gemeinden klein. Und doch bemerkte ich keine Frustration oder gar Resignation. Vielmehr spürte ich Freude, Optimismus und Tatendrang. Dies mag vielleicht der Persönlichkeit Pater Matthews geschuldet sein, doch ich sah auch die Herzlichkeit und Freude der anderen Gemeindemitglieder, die im Verlauf unseres Gesprächs zur Messe erschienen.
In der Kirche selbst erwartete uns eine Überraschung: Der kleine Raum war fast überfüllt, schnell holten Gemeindemitglieder mehr Stühle. Ich zählte über 40 Gottesdienstbesucher und mir fiel auf, wie vielfältig die Gemeinschaft war. Später erfuhr ich, dass die Menschen aus Finnland, Burma, Vietnam, den Philippinen, Polen und Italien stammten. Viele davon leben in Finnland, manche waren Touristen.
Messe auf Finnisch und Englisch
Schließlich begann der Gottesdienst und wer bereits eine katholische Messe im Ausland besucht hat, kennt vielleicht das Gefühl, das sich sofort in mir einstellte: das Gefühl zu Hause zu sein. Die Rituale und die Abläufe in katholischen Messen sind trotz individueller Gepflogenheiten rund um den Erdball gleich. Auch ohne ein Wort zu verstehen, weiß man um die Bedeutung der gerade vollzogenen Handlungen – die Schönheit der Weltkirche. Zudem machten es uns die Gemeindemitglieder leicht: Wir bekamen Ablaufpläne, die alle Gebete und Antworttexte auf Finnisch sowie die Lieder enthielten. Ob wir mit unserem finnischen Gesang zur Feierlichkeit der Messe beigetragen haben, sei dahingestellt. Interessant und schön war es für uns allemal. Da zudem spontan einige englische Lieder angestimmt wurden und Pater Matthew die Eröffnung, Predigt und Verabschiedung zusätzlich auf Englisch hielt, fühlten wir uns angenommen. Die orthodoxe Kirche bot dazu mit ihrer für uns teils ungewohnten Gestaltung einen schönen Rahmen und zeigte, dass christlicher Glaube viele Facetten und Ausdrucksformen haben kann.
Nach der Messe luden uns die Gemeindemitglieder zum Kirchenkaffee ein. Ich plauderte mit Elizabeth, einer älteren Dame, die berichtete, wie sie vor über 50 Jahren aus Kanada nach Finnland übersiedelte. Sie und ihr Mann, der konvertierte, seien die einzigen Katholiken in der Region gewesen. Zum nächstgelegenen Gottesdienst hätten sie fünf bis sechs Stunden gebraucht. Durch Engagement und Zuwanderung gäbe es nun aber eine lebendige Gemeinde und regelmäßige Messen vor Ort. Im weiteren Gespräch und im Miteinander der Gemeindemitglieder und Touristen bemerkte ich wieder die Merkmale, die mir nicht nur, aber besonders in kleineren Gemeinden auffallen: Zugewandtheit, echtes Interesse am Menschen, ein Blick auf die Bedürfnisse des anderen und eine große Herzlichkeit.
Zukunft mit lebendigen Perspektiven
Als wir schließlich das Kirchengebäude verließen, zeigten sich nicht wie von mir erträumt Polarlichter am Himmel. Dazu war es noch zu hell. Dafür spazierten wir zum Sonnenuntergang über die zugefrorene Ostsee.
Die Begegnungen in der finnischen Diaspora zeigten mir, wie wir auch bei uns lebendige Gemeinden erhalten und weiterhin in die Welt hinaus wirken können: Indem wir uns im Vertrauen auf Gottes Wirken engagieren und schauen, welche liebgewonnen Traditionen wir beibehalten und welche neuen Entwicklungen und Wege wir zulassen können. Und vor allem, indem wir unsere Kirchen und unsere Herzen öffnen für die Menschen, die zu uns kommen.
Wieder zu Hause angekommen, ging es für mich direkt zu einer Familienfeier in meinen alten Heimatort. Seit einigen Jahren übernehmen hier Gemeindemitglieder ehrenamtliche Tätigkeiten, gestalten Andachten, treffen Entscheidungen, feiern Gottesdienste. Die Gemeinde ist lebendig, es gibt Perspektiven. Dazu passt, dass ich vor einigen Wochen einen Anruf erhielt: Mein Freund war am Telefon: Er fragte mich, ob ich Pate sein könnte. Er möchte seinen Sohn diesen Sommer taufen lassen.
Von Sebastian Skalitz
Diaspora-Erfahrungen in Finnland
Johanna Marin
Foto: Johanna Marin
Auf der Krebsstation des Sophien- und Hufeland-Klinikums in Weimar hat Elisabeth Runge täglich mit dem Tod zu tun. Die Ärztin plädiert dafür, schon im Leben über den eigenen Tod zu reden – damit Angehörige im Ernstfall wissen, was der Sterbende sich wünscht.
Wenn sie auf Station die Visite macht, denken ihre Patienten oft, dass sie Pflegeschülerin ist. „Wo bleibt denn der Arzt?“, wird sie dann gefragt. Dabei ist die 27-jährige Katholikin aus Berlin seit einem Jahr Assistenzärztin im evangelischen Sophien- und Hufeland-Klinikum Weimar. In der Onkologie nicht immer ein leichter Job – viele ihrer Patienten befinden sich auf den letzten Metern des eigenen Lebens. Auch in der Notaufnahme, wo sie regelmäßig aushilft, begegnet ihr der Tod immer wieder.
„Zum Leben gehört das Sterben“, weiß die Ärztin. Vor allem älteren Patienten sei das oft auch bewusst. „Na ja, ich hab mein Leben doch gelebt“, höre sie dann manchmal, und nicht selten komme es vor, dass alte Menschen sich das Ende herbeisehnen. „Da sind es dann eher die Angehörigen, die von der Nachricht, dass der Großvater oder die Großmutter bald sterben wird, überrascht sind.“ Überhaupt falle der Abschied Angehörigen oft schwerer. Der Sterbende merkt, dass er zum Beispiel nicht mal mehr die eigene Teetasse halten kann. Die Familie könne das zwar auch sehen, spüre aber nicht, wie schwach der eigene Körper sich anfühlt. „Die Patienten können sich gedanklich darauf vorbereiten. Für die Angehörigen kommt der Sterbeprozess eher aus dem Nichts – die müssen das sehr deutlich gesagt kriegen.“
Offener Dialog mit dem Patienten
Wenn sie den Patienten schlechte Nachrichten überbringen muss, hilft ihr die Frage nach dem Patientenwissen: Bevor sie eine fatale Diagnose ausspricht, fragt sie den Patienten, was er selbst bisher schon weiß. „Die Menschen haben im Verlauf der Diagnostik teilweise schon einiges mitbekommen“, sagt Elisabeth Runge. „Es hilft mir im Gespräch, zu wissen, auf welchem Stand sie sind und wie ich mit ihnen sprechen kann.“ Manchmal kommen im Gespräch auch Fragen auf, die sie selbst nicht auf dem Schirm hatte. Vor allem in der Onkologie helfe ihr dieser Teil des Gesprächs. „Es wird einfacher für mich, wenn der Patient selbst schon das Wort ‚Krebs‘ gesagt hat.“
„Ich habe das Gefühl, dass das Verständnis für das, was passieren wird – das Sterben – im Verlauf der Krankheit wächst“, sagt Elisabeth Runge. „Je mehr Zeit verstreicht, desto fassbarer wird der Tod für den Patienten.“ Manche akzeptieren schnell, dass sie sterben werden. Andere setzen sich Ziele: „Ich möchte Weihnachten noch erleben.“ „Mein Enkel wird im Sommer eingeschult.“ Wieder andere wollen um jeden Preis weiterleben. Das sei für sie besonders schwer mit anzusehen, sagt die Medizinerin. „Eigentlich möchte ich mit dem Patienten arbeiten – nicht gegen ihn“, sagt sie. Doch es sei schwierig, die notwendigen medizinischen Schritte abzusprechen, wenn jemand den bevorstehenden Tod nicht wahrhaben will. Am schlimmsten ist für sie jedoch, wenn ein Mensch in der Notaufnahme stirbt. „Wenn wir alles gegeben haben, und die Person es nicht schafft – das sind die Momente, wo es mich am meisten trifft.“ Während der Reanimation bleibt keine Zeit, sich wirklich auf den Menschen einzulassen. Dabei wünscht sie ihren Patienten Ruhe, wenn sie sterben.
„Ich glaube, dass wir uns insgesamt zu wenig Gedanken über den eigenen Tod machen“, glaubt Elisabeth Runge. „Kritisch Kranke sind oft sehr plötzlich nicht mehr ansprechbar – und dann sollen Angehörige oder Ärzte eine Entscheidung über lebenserhaltende Maßnahmen treffen.“ Sie wünscht sich, dass Menschen für solche Fälle aufschreiben, was ihnen im Leben wichtig ist. Sitzen sie gern im Garten und schauen die Blumen an? Wollen sie aktiv und unterwegs sein? Das könne Ärzten helfen, standartisierte Patientenverfügungen auf den konkreten Fall anzuwenden.
Den Wunsch des Sterbenden kennen
Elisabeth Runge erlebt oft, dass Angehörige Angst haben, zu sagen, wie es weitergeht. Sie wollen nicht entscheiden, ob die eigene Mutter lebt oder stirbt. Diese Angst versucht sie den Angehörigen zu nehmen: „Sie sollen nicht eine eigene Entscheidung treffen, sondern den Wunsch ihrer Mutter aussprechen!“ Ein entscheidender Unterschied, so die Ärztin – und der Grund, wieso Menschen sich schon im Leben über ihren Tod unterhalten sollten. „Für den Patienten ist das wichtig, weil wir dann nach seinem Willen handeln können – selbst, wenn er nicht mehr reden kann“, sagt Elisabeth Runge. Und für die Angehörigen sei es wichtig, weil sie dann sicherer wären, dass der Sterbende sich seinen Tod so gewünscht hätte.
Elisabeth Runge kann die Abschiede von ihren Patienten, die sie teilweise über Monate hinweg begleitet, meistens gut verarbeiten. Dabei, so vermutet sie, hilft ihr auch ihr Glaube daran, dass nach dem Tod noch etwas kommt. Als Ärztin ist sie auch für die sogenannte Leichenschau verantwortlich, bei der ein Mediziner den Tod nochmals bestätigen muss. Wenn es soweit ist, haben die Pfleger die verstorbene Person oft schon gewaschen, eine Kerze aufgestellt, eine Engelsfigur neben das Bett gelegt und das Fenster geöffnet. Bevor sie den Raum wieder verlässt, spricht Elisabeth Runge ein kleines Gebet für ihre Patienten. Außerdem findet im Haus alle drei Monate ein Trauerritual für das Personal statt. In einem Gottesdienst werden die Namen all derer vorgelesen, die in dieser Zeit verstorben sind. „Das ist total schön und hilft uns, das als Team zu verarbeiten“, sagt Elisabeth Runge.
Das Sterben als Erleichterung
Wenn einen Patienten die Kräfte immer mehr verlassen, kann das Sterben ihn auch erleichtern, hat sie erlebt. „Wir hatten mal eine Patientin, die lange gekämpft hat und große Schmerzen hatte“, erinnert sich Elisabeth Runge. Kurz bevor sie nicht mehr konnte, ließ sie ihre Großfamilie zusammenrufen – auch die Enkelkinder waren dabei. Als alle da waren, wurde sie sediert – ein Schritt, der im Sterbeprozess Schmerzen und Angst nehmen soll. Die Ärzte haben versucht, der Familie Raum zu geben, erzählt sie, damit sie sich in Ruhe voneinander verabschieden können. „Als ich noch mal rein musste, haben alle miteinander geweint. Nur die Patientin nicht – sie hat gelächelt.“
Umgang mit Sterbenden
Johanna Marin
Foto: kna/Harald Oppitz
In größer werdenden Pfarreien kommen Priester – gerade an den Kar- und Ostertagen – oft nicht mehr in jede Kirche. Wie können Gemeinden diese Tage trotzdem begehen? Diakon Thomas Pogoda aus Magdeburg hat Gottesdienstbeauftragte des Bistums dafür geschult.
Ohne Priester gehts nicht, da ist Thomas Pogoda sich sicher. Er ist Diakon im Bistum Magdeburg und Direktor der Fachakademie für Gemeindepastoral. Der Gründonnerstag, den die katholische Kirche mit der Einsetzung der Eucharistie verbindet, ist kein Tag, an dem man die Kommunion aus dem Tabernakel austeilen sollte. „Das widerspricht sich“, sagt er. Trotzdem, oder gerade deswegen, bietet er Fortbildungen für Gottesdienstbeauftragte an, die die Feier der Kar- und Ostertage ohne Priester vor Ort in die Gemeinden bringen.
„Wir brauchen die Eucharistie, damit die christliche Gemeinschaft leben kann. Der priesterliche Dienst hängt damit zusammen“, erklärt Thomas Pogoda. Dennoch, die Kar- und Ostertage würden immer öfter nur noch an zentralen Orten und nicht mehr in den einzelnen Gemeinden gefeiert. Dabei verliere man Leute, die den Ort nicht wechseln können oder wollen. Dem setzt der Diakon eine Idee aus den 50er und 60er Jahren entgegen: Die einzelnen Gemeinden einer Pfarrei feiern den Gottesdienst zeitversetzt. Nachdem der Priester in einer Kirche die Eucharistie feiert, brechen die Beauftragten aus dem Gottesdienst auf in die anderen Gemeinden, um dort mit dem Leib des Herrn, der aus der gemeinsamen heiligen Messe stammt, Wortgottesfeier zu halten. Die Idee stammt aus der DDR, als viele Vertriebene in Dörfern wohnten, zu denen kein Priester kam. „Das Ideal war: Derjenige, der die Liturgie an der Außenstelle feiert, feiert sie auch am ersten Ort mit“, erzählt der Diakon.
Selbst miterlebt hat das Jürgen Richter aus der Pfarrei Tangermünde. 1974 wurde er zum Diakonatshelfer in Rathenow, Bistum Berlin, ernannt. „Die schönsten Gottesdienste, die ich je erlebt habe, fanden im Wohnzimmer einer Familie aus dem Sudetenland statt“, berichtet er. In den Außenstellen der Pfarrei habe es damals viele Vertriebene gegeben, die froh waren, den Gottesdienst feiern zu können. Allerdings beobachtet Jürgen Richter, dass sich das Verständnis von Wortgottesfeiern verändert hat: „Das war eine Notlösung, mit der die Gemeindemitglieder versorgt wurden.“ Ihm selbst ist wichtig, dass er eine heilige Messe besucht, bevor er als Diakonatshelfer zu den Außenstellen fährt, um die Kommunion auszuteilen.
Eine Wortgottesfeier mit Kommunionausteilung sei ein abgeminderter Ersatz für eine Messe, sagt auch Diakon Thomas Pogoda. Trotzdem sei die Begegnung mit dem gesprochenen Wort aber ebenfalls eine Begegnung mit dem Auferstandenen. „Auch im Lesen des Wortes entsteht eine sakramentale Wirklichkeit.“ In seinem Kurs wirbt er deshalb dafür, den eigenen Wert der Christusbegegnung zu erkennen und anzunehmen, dass Jesus den Menschen auch durch das Wort Gottes berühren kann.
Die Gottesdienstbeauftragten sollen ein Verständnis dafür entwickeln, was die liturgisch prägenden Formen der Kar- und Ostertage sind. Sie erarbeiten, welche Elemente eine Begegnung mit dem Ostergeheimnis ermöglichen. Das kann zum Beispiel die Fußwaschung an Gründonnerstag sein, die im Johannesevangelium eine wichtige Rolle spielt, oder die Ölbergstunde. Auch das Spiel von Licht und Dunkelheit in der Osternacht gehört dazu. Wenn das Feuer der Osterkerze sich in der Kirche verbreitet und die dunkle Nacht erhellt, wird erfahrbar, was Auferstehung bedeutet, so Thomas Pogoda. „Das ist etwas, was Menschen emotional berührt.“ Die Helfer können das Osterlicht von der zentralen Feier in die einzelnen Gemeinden tragen.
Thomas Pogoda möchte den Teilnehmern der Fortbildung eine Sensibilität dafür mitgeben, dass sie diese Gottesdienste für andere gestalten. Sie ermöglichen die Begegnung mit dem Ostergeheimnis lokal vor Ort. Dazu befähigt sind sie durch ihre Taufe, die gewissermaßen auch eine Weihe aller Gläubigen ist, beauftragt werden sie vom Bischof. Es braucht die Eucharistie und die Priester, sagt der Diakon, aber eben auch eine gemeinsame Verantwortung für ein vitales christliches Leben. „Ihr seid keine Lückenbüßer“, versichert er denen, die die Kar- und Osterfeiern in die Gemeinden bringen. „Ihr tut, was euer Auftrag als Christ ist.“
Ostern feiern ohne Priester vor Ort
Foto: kna/Dominik Wolf
Weihbischof Reinhard Hauke lädt zur Feier der Heiligen drei Tage in den Erfurter Dom ein.
Weihbischof Reinhard Hauke, Bistum Erfurt, schreibt stellvertretend für die Bischöfe im TAG DES HERRN-Verbreitungsgebiet ein Ostergrußwort an die Leser. Er nimmt uns mit in seine Heilige Woche.
Natürlich beginnt die Planung der Kar- und Osterzeit schon einige Wochen vor dem Osterfest, aber richtig bedeutsam wird es erst, wenn Palmsonntag gekommen ist. Als Dompropst habe ich mit den Küstern schon die Besonderheiten der einzelnen Festtage besprochen, wobei die heiligen Öle eine besondere Bedeutung haben. Das Prozedere hat sich eingespielt: Jeweils 5 Liter Olivenöl für Chrisam, Katechumenenöl und Krankenöl werden bestellt. Dazu kommen der Balsam für das Chrisamöl und vielleicht noch Duftstoffe für die drei Öle, damit man sie schon am Geruch unterscheiden kann. „Der Neugetaufte soll gut duften!“ – ist mein Kommentar dazu. Natürlich braucht es die Osterkerze und auch die Meßgewänder sollten in Ordnung sein. Als Ministrant hatten wir die Aufgabe, alle liturgischen Geräte vor Ostern zu putzen, aber das überlasse ich heute lieber den Fachleuten.
Mit der Palmsonntagsliturgie und der Palmsonntagsprozession in Heiligenstadt starten wir dann im Bistum in die Heilige Woche. Schon hier begleiten wir Christus durch die biblischen Texte oder auch durch die Prozessionsbilder auf seinem Weg zum Kreuz. Am Dienstag in der Karwoche treffen sich alle, die im pastoralen Dienst im Bistum stehen, im Erfurter Dom zur Ölweihmesse, wo bei der Weihe der Öle an alle wichtigen Vollzüge der Kirche im Laufe des Jahres erinnert wird: Taufe, Firmung, Krankensalbung, Priesterweihe und vielleicht eine Altarkonsekration. Wir leben mit diesen heiligen Zeichen das liturgische Jahr hindurch und erinnern uns dabei an Christus, den Gesalbten und Herrn unseres Lebens, durch den auch wir Gesalbte werden – Christen.
In der Gründonnerstagliturgie sind wir in Gedanken und durch die Riten Christus ganz nahe. In diesem Jahr werde ich in einem Gefängnis den Insassen die Füße waschen und damit zeigen, zu welch demütigem Dienst Jesus an uns bereit ist. Die Karmetten am Karfreitag und Karsamstag führen die Christen am Morgen dieser Kartage zum Gebet in der Domkrypta und am Heiligen Grab zusammen. Die Psalmen erinnern uns an das Auf und Ab im Leben des jüdischen Volkes und laden uns ein, im Blick auf die Passion Jesu gleichfalls unseren eigenen Lebensweg anzunehmen. In der Osternacht, die mit dem Entzünden des Osterfeuers beginnt, erinnern wir uns an unsere Verbundenheit durch die Taufe mit Jesus Christus und können hoffentlich die Taufe von Kindern und Erwachsenen miterleben. Die Erwachsenen berichten mir danach meistens von der großen Freude, die sie bei der Taufe erfüllte – nicht nur, weil sie es „endlich geschafft haben“, sondern weil sie spüren, wie gut es tut, in der Gemeinschaft der Glaubenden und mit Jesus Christus geborgen zu sein.
Am Ostersonntag kommen viele Bewohner der Stadt um 10.45 Uhr auf den Domberg, um die große Domglocke zu hören – die Gloriosa. Sie läutet acht Minuten mit ihrem tiefen Ton „e“ vor Beginn des Pontifikalamtes, in dem durch die Ostergesänge unsere ganze Freude herausbrechen kann und soll. Das Halleluja spielt dabei eine große Rolle. Wir haben es in der ganzen Fastenzeit nicht gesungen und nun ist es mit ganzer Kraft im Sologesang, im Chor oder dem Gemeindegesang zu hören.
Wenn wir auch die Kar- und Ostertage oftmals nur mit dem „harten Kern“ der Gemeinde feiern – anders als Weihnachten, so hoffen wir doch, dass es ein Ausstrahlen unserer Osterfreude gibt, die zur Frage anregt: Warum seid ihr Christen so froh? Dann können wir sagen: Mit Christus gehen wir unseren Weg durch dieses Leben und durch den Tod zur Auferstehung!
Von Herzen wünsche ich Ihnen allen, diese Freude am sinnvollen Leben mit Jesus Christus.
Ostern feiern mit Weihbischof Reinhard Hauke
Guido Erbrich
Wir sitzen beim Frühstück. Drei Männer – drei Brötchen, drei Kaffee. Die beiden Handwerker haben gerade meine Dachziegel durcheinandergebracht. Jetzt machen sie Pause.
Guido ErbrichSenderbeauftragter der katholischen Kirche beim Mitteldeutschen Rundfunk
Wir reden über den nächsten Urlaub. „Ich will mal nach Jordanien“, sagt der eine. „Da würd ich nie hin“, antwortet der andere überrascht. „Wieso nicht“, frage ich. „Weil es da bestimmt krass ist“, sagt er. Schon sind wir in einem Gespräch über das Land am Jordan.
Drei Männer – drei Brötchen – drei Meinungen. Was uns eint: Wir waren noch nie in Jordanien. Aber in unseren Köpfen laufen verschiedene Filme ab. Der Erste sieht vielleicht Wüsten und Kamele, der Zweite verschleierte Frauen vor Moscheen, der Dritte Städte voll hupender Motorräder und bunter Basare. Könnten Jordanier diese Filme sehen, würden sie den Kopf schütteln. Wahrscheinlich hat das alles wenig mit ihrem Land zu tun.
Die Sioux, die sehr weit von Jordanien weg leben, haben ein schönes Sprichwort. „Urteile nie übe einen Menschen, ehe du nicht ein paar Kilometer in seinen Mokassins gelaufen bist.“ Jeder Mensch ist hat seine eigenen Geschichten, Macken, Stärken, Träume. Schon meine Nachbarin ist anders als ich. Was uns eint, ist auch unsere Verschiedenheit. Viel mehr als Herkunft und Sprache.
Der Apostel Paulus hatte es oft mit Menschen zu tun, die es gerne zu einfach hätten. Denen am besten jemand sagt, wie es ist. Sein Rezept ist einfach und schwierig zugleich: „Prüfe alles, das Gute behalte.“ Das heißt auch, immer mal die Perspektive zu wechseln, neugierig sein für neue Erfahrungen und Ansichten.
Den Sioux-Spruch mit dem Schuhwechsel kann man auch auf Länder anwenden. „Urteile nie über ein Land, wenn du es nicht wenigstens ein paar Tage erlebt hast.“
Anstoß 08/2025
Johanna Marin
Foto: imago/Zoonar
Nicht nur Sex – jede Form von körperlicher Intimität ist wichtig für die Beziehung.
In Gesprächen ist sie oft ein Tabu – in der Bibel hingegen ausführlich beschrieben: die Sexualität. Wieso es sich lohnt, miteinander darüber zu sprechen, verrät Theresia Härtel, Theologin und Sexologin im Erzbistum Berlin. Außerdem erklärt sie, was Kirche und Bibel wirklich dazu sagen – und was eigentlich nicht.
Die schönste Sache der Welt, oder doch ein peinliches Thema zum Rotwerden? Die Sexualität des Menschen ist komplex, und während manche sich schwertun, über den Körper oder ihre Sehnsüchte zu reden, werben andere dafür, das Thema offen anzusprechen. Vielleicht nicht mit jedem, aber doch zumindest mit einer vertrauten Person: Das kann die beste Freundin, der Partner, ein Elternteil oder auch ein Sexualberater sein. Manche Menschen wenden sich auch an Seelsorger und Priester, sagt Theresia Härtel, Pastoralreferentin im Erzbistum Berlin. Das hatte sie auf die Idee gebracht, sich selbst in Sexualberatung weiterzubilden. Und wenn das Sprechen darüber schwerfällt? „Es hilft schon mal, sich zu belesen“, rät die Seelsorgerin. Wenn man dann merke, dass die eigenen Probleme und Fragen normal sind, sinke die Hürde, konkret nachzufragen.
Sinnlich statt sündhaft: Das Hohelied in der Bibel zeigt, dass die Sehnsucht nach dem anderen menschlich ist – und göttlich.
„Zu unserer Sexualität gehört erstmal alles, was mit unserem Geschlecht zu tun hat“, erklärt sie: Fortpflanzung und Lust, aber auch kulturelle Einflüsse, Rollen, die einem je nach Geschlecht zugewiesen würden, oder eben auch die Entscheidung – beispielsweise bei Priestern und Ordensleuten – die eigenen sexuellen Bedürfnisse nicht auszuleben. Dennoch seien auch sie nicht von körperlichen Erfahrungen ausgeschlossen, die die Sinne anregen. „Das ist ja gerade in katholischen Gottesdiensten so schön: durch die verschiedenen Körperhaltungen, den Weihrauch und die Musik werden viele Sinne angesprochen“, so Theresia Härtel. Körperlichkeit wirkt sich also auf viele Lebensbereiche aus. Sexualität zu erklären sei ein bisschen so, wie wenn man versuche, Gott in wenigen Worten zu beschreiben, vergleicht die Theologin.
Ob Sexualität und Liebe miteinander zusammenhängen, sei eine Frage der individuellen Einstellung, sagt Theresia Härtel. Die Ehe zum Beispiel sei früher nicht an Liebe geknüpft gewesen – der Sex aber an die Ehe. „Das war eigentlich eine ziemlich clevere Logik“, sagt sie, „die Frau und ihre Nachkommen waren durch die Institution Ehe geschützt.“ Denn so war rechtlich sichergestellt, dass der Versorger – der Ehemann und Vater – seine Familie unterstützte. In der Bibel kommt die Aussage, vor der Ehe solle man keinen Sex haben, nicht wortwörtlich vor. Trotzdem ist das miteinander schlafen, das sogenannte „Erkennen“ des Partners, in biblischen Geschichten dort verortet, wo Mann und Frau in Beziehung zusammenleben. Theresia Härtel betrachtet die Frage nach dem Zeitpunkt und der Verantwortung für den Geschlechtsverkehr als eine Gewissensentscheidung – zu der sie Christen durch ihre Taufe und den heiligen Geist befähigt sieht.
Sex in der Ehe – plötzlich schön?
Theresia Härtel, Pastoralreferentin und Sexologin im Erzbistum Berlin.
Den Begriff der „Keuschheit“, der sich ursprünglich vom lateinischen „conscius“ – „bewusst“ – ableitet, würde die Seelsorgerin gerne ruhen lassen. Mit diesem Wort, das oft mit „sexueller Reinheit“ konnotiert sei, werde vermittelt, dass Sexualität schlecht ist. Das sei auch später in der Ehe hinderlich: „Wenn man ein Leben lang gesagt bekommt, dass Sex etwas Böses ist, aber in der Ehe soll man dann plötzlich Kinder zeugen, dann ist das Bild von Sexualität trotzdem negativ geprägt – und das funktioniert nicht.“ Dabei bezieht Theresia Härtel sich auch auf eine Studie aus den USA von 2024, die christlich geprägte Frauen nach ihrer Haltung zu Sex und ihren sexuellen Erfahrungen befragte. Frauen, die in dem Glauben aufgewachsen waren, dass Sex unrein sei, gaben dort häufiger an, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr zu haben. „Das liegt daran, dass sich die Vagina zusammenzieht – eigentlich ist das eine Schutzfunktion, um den Körper vor ungewolltem Eindringen zu schützen“, weiß Theresia Härtel aus ihrem Studium der Sexologie. Wenn dadurch jedoch Schmerzen beim Verkehr entstehen oder dieser gar nicht möglich ist, spricht man von einer sexuellen Funktionsstörung namens Vaginismus. Eine körperorientierte Sexualberatung kann dabei helfen, so die Seelsorgerin – der gut gemeinte Ratschlag, den Sex nach der Hochzeit doch einfach zu genießen, hingegen nicht.
Sich nach dem anderen sehnen
Eigentlich werde in der Bibel aber ein positives Bild von Sexualität verbreitet. „Im Hohelied zum Beispiel wird sie als etwas Schönes und Schützenswertes dargestellt“, sagt Theresia Härtel. Und tatsächlich: „Seine Linke liegt unter meinem Kopf, seine Rechte umfängt mich“, ist noch einer der weniger sinnlichen Verse dieses Liedes, in dem die Sehnsucht zwischen Mann und Frau besungen wird. Das Hohelied gilt als Darstellung der Liebe zwischen zwei Eheleuten, aber auch als bildhafte Darstellung der Liebe Gottes zu den Menschen. „Es beinhaltet viele sexuelle Beschreibungen – die werden nur im Sonntagsgottesdienst nicht vorgelesen“, erklärt Theresia Härtel.
Mit dem Partner zu schlafen und ihn zu begehren, bedeute, sich dem anderen zu schenken, sagte auch Papst Johannes Paul II. in seinen Katechesen zur „Theologie des Leibes“. Er habe die Sexualität zwischen Mann und Frau ganzheitlich betrachtet: nicht als Verbot oder allein dazu da, um sich fortzupflanzen, sondern als Geben und Nehmen aus Liebe. Er bekräftige in seinen – auf das katholische Ehebild konzentrierten – Auslegungen, dass ein Mensch auf einen anderen Menschen hin geschaffen ist, so die Theologin. Sich nach dem anderen zu sehnen, gehörte für ihn zum Menschsein dazu. „Der Leib kann das Unsichtbare sichtbar machen.“ So beschrieb der Papst, dass sich die emotionale Verbindung zwischen zwei Personen auch durch die körperliche Liebe ausdrückt. Dass Eheleute – auch beim Sex – das Wohl des Partners im Blick behalten sollen, ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil sogar im Kirchenrecht (Canon 1055) festgeschrieben.
Entwickeln sich mit: Die eigenen sexuellen Bedürfnisse.Foto: shutterstock/CameraCraft
Selbst Verantwortung übernehmen
Woher aber stammt das schambehaftete Bild, das der Sexualität oft anhaftet? Ein Blick in das Buch Levitikus bietet Antworten: Ein ganzer Katalog an Regeln, wie man sich nach dem Geschlechtsakt zu verhalten habe und mit wem man nicht schlafen dürfe, liegt hier vor. Das Wort „unrein“ wiederholt sich immer wieder. „In der Bibel finden wir außerdem Texte, die kritisieren, wie das Wissen über Sex in der Antike weitergegeben wurde“, erklärt Theresia Härtel, „Nämlich, indem ältere Männer es den Jungen beibrachten – und das ganz konkret im Akt.“ Paulus benenne das in seinen Briefen im Neuen Testament. „Und das ist auch richtig so, heute würden wir das als Missbrauch an Kindern ahnden“, sagt die Theologin. „Diese alten biblischen Traditionen und Aussagen prägen das Bild der Kirche von Sexualität bis heute weiter – teilweise mit einer fast schon gewalthaften Zwangskultur, in der betont wird, dass nur ein einziger Weg richtig sei.“ Dabei sei ihr heute ein anderer Ansatz wichtig, sagt Theresia Härtel: „Im Zweiten Vatikanischen Konzil wird das eigene Gewissen als göttlicher Ankerpunkt beschrieben.“ Das bedeute eben auch, dass Menschen Entscheidungen über ihre Sexualität selbst treffen könnten – allerdings gut informiert und nicht aus einer Laune heraus, betont sie. Sie sollten sich bewusst sein, dass sie für die Person, mit der sie Sex haben wollen, mit verantwortlich sind.
In ihrer Arbeit als Sexualberaterin erlebt sie außerdem, dass Eltern ihren Kindern ungewollt Scham vermitteln, was sich auf die spätere Sexualität auswirken könne. Wenn sie sehen, wie ihre Kinder den eigenen Körper erkunden, und sie dann zum Händewaschen schicken, stecke da keine böse Absicht dahinter, so Theresia Härtel. Dennoch könne das bei den Kindern das Gefühl hervorrufen, dass die eigene Sexualität schmutzig sei, der eigene Körper etwas, wofür man sich schämen muss. Ähnlich sei es auch mit Predigten über Selbstbefriedigung oder mit dem Beichtspiegel, in dem Gläubige gefragt werden, ob sie Pornographie anschauen würden. „Ich will gar nicht sagen, dass man das nicht beichten sollte, wenn es einen belastet“, sagt sie, „aber das Spektrum von Pornos ist sehr groß und es gibt sicherlich Inhalte, die moralisch mehr, weniger oder vielleicht auch gar nicht verwerflich sind.“ Eine sehr alte Frau, berichtet Theresia Härtel, habe ihr mal erzählt, dass sie als Kind die Angst hatte, ihr Bruder könne in die Hölle kommen, wenn er sich selbst befriedigt. „Dabei gibt es inzwischen erste Texte, in denen theologisch argumentiert wird, dass Selbstbefriedigung erlaubt ist, wenn der übertriebene Sexualdrang des Ehemannes die Ehefrau unter Druck setzt. Als Sexologin würde ich sogar sagen, dass die Selbstbefriedigung ein wichtiger Lernraum ist: man könnte vielen sexuellen Problemen in einer Beziehung vorbeugen, wenn man sozusagen übt.“
Über die eigenen Wünsche zu sprechen, hilft
Nicht selten entstünden Beziehungsprobleme auch dadurch, dass die Partner die Sexualität vernachlässigen, sagt Theresia Härtel. Als Sexualberaterin habe sie gelernt, dass eine Beziehung auf zwei Säulen steht: Liebe und Sex. „Das meint nicht nur den direkten Geschlechtsverkehr“, lenkt sie ein, „sondern jede Form von körperlicher Intimität.“ Eine Weile könne auch nur eine der beiden Säulen die Beziehung aufrechterhalten, doch um tragfähig zu bleiben, brauche es beide. Die eigene Sexualität sei ein Thema, über das die Partner laut Theresia Härtel auch immer wieder neu sprechen müssen, da sie sich ein Leben lang weiterentwickle. Wenn sich beispielsweise nach einer Schwangerschaft oder in den Wechseljahren die Lust verändere, müsse man gemeinsam neue Wege finden. Als Seelsorgerin wünscht sie sich, dass auch in Ehevorbereitungskursen darüber gesprochen wird – und die Eheleute, gestärkt durch den Heiligen Geist, Verantwortung übernehmen. Die Seelsorger können dabei begleiten und unterstützen. „Manche Menschen wenden sich bei sexuellen Problemen auch hilfesuchend an einen Priester“, berichtet die Seelsorgerin. Dessen Aufgabe sieht sie nicht darin, die passende Antwort parat zu haben; Vielmehr hofft sie, dass Priester diese Personen an die richtigen Stellen weiterverweisen können.
Bestenfalls sollten Seelsorger schon im Ehevorbereitungskurs vermitteln, dass die Partner in ihrer Beziehung miteinander über ihre Sexualität sprechen.Foto: imago/Depositphotos
„Wir sollen ja so leben, wie Jesus es uns als Vorbild gezeigt hat“, fasst Theresia Härtel zusammen, wie sie auf Kirche und Sexualität blickt, „und die anderen wirklich so annehmen, wie sie geschaffen sind.“ Deshalb wünscht sie sich, dass Menschen lernen, ihre eigenen Schamgrenzen zu hinterfragen, sich mit ihrem Wunsch nach Sexualität auseinanderzusetzen – und mit den Wünschen des Partners verantwortungsvoll umzugehen. „Und wenn man erstmal drüber redet, werden Hürden abgebaut“, sagt sie, „und dann wird ganz vieles leichter.“
Viele Katholiken beschäftigt das Verhältnis ihrer Kirche zur Sexualität
Foto: shuterstock/majopez
Der Weg zu einem Neuanfang nach dem Bekanntwerden von sexuellem Missbrauch in der Kirche ist lang.
Missbrauch, Schuld, Verantwortung: Die Kirchen ringen mit ihrer Vergangenheit – und mit der Frage, was echte Aufarbeitung bedeutet. Die Pastoraltheologin Sabine Otto sieht in der spirituellen Tradition der katholischen Kirche Potenzial für den langen Weg zu einem glaubwürdigen Neuanfang.
Der sexuelle Missbrauch in der Kirche ist eine Realität, die sich nicht abschließen lässt. Weder für die Betroffenen noch für die Kirche als Institution kann es ein einfaches „Vergessen“ oder „Hinter-sich-lassen“ geben. Gleichzeitig wächst in vielen Gemeinden der Wunsch nach einem Neuanfang. Warum aber gelingt dieser nicht? Warum bleiben Misstrauen, Wut und Ohnmacht bestehen?
Betroffene werden immer wieder mit der Erwartung konfrontiert, endlich zu vergeben. Doch Vergebung kann nicht eingefordert, nicht verordnet und nicht erzwungen werden. In der christlichen Tradition ist Vergebung ein Geschenk – aber eines, das mit der Forderung nach Umkehr verbunden ist. Der biblische Anspruch ist hoch: „Wenn du also deine Opfergabe zum Altar bringst und dir fällt dort ein, dass jemand dir etwas vorzuwerfen hat, dann lass deine Gabe vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Mitmenschen, dann komm und opfere deine Gabe.“
Damit macht Jesus unmissverständlich deutlich: Die Bitte um Vergebung setzt eine Umkehr voraus. Schuld muss erkannt, bekannt und wiedergutgemacht werden, bevor von Versöhnung gesprochen werden kann. Auch das Sakrament der Versöhnung spiegelt diese Logik wider: Ohne Reue, Bekenntnis, Vorsatz zur Umkehr und Genugtuung gibt es keine Lossprechung. Der Weg, den das Bußsakrament vorgibt, kann Orientierung bieten – und aufzeigen, wie ein Weiterleben in der Kirche nach dem Missbrauch denkbar ist.
Gewissenserforschung – Wo war mein Platz in dieser Geschichte?
Im Bußsakrament beginnt alles mit der ehrlichen Prüfung des eigenen Gewissens. Wer umkehrt, muss sich fragen: Was habe ich getan – oder unterlassen? In der Debatte um sexuellen Missbrauch in der Kirche richtet sich der Blick oft auf Täter oder auf Verantwortungsträger in hohen Ämtern. Aber was ist mit denen, die weggeschaut haben?
Jede Gemeinde, in der Missbrauch geschehen ist, ist ein Ort, an dem Kinder nicht geschützt, Täter nicht gestoppt und Hinweise nicht ernst genommen wurden. Manchmal aus Angst, manchmal aus Bequemlichkeit, oft aus falsch verstandener Loyalität. Bis heute gibt es Gläubige, die überführte Täter verteidigen oder ihnen – trotz erwiesener Schuld – den Status eines „guten Seelsorgers“ zusprechen. Doch eine Kirche, die wirklich aufarbeiten will, muss ehrlich fragen: Welche Haltung in unseren Gemeinden hat dazu beigetragen, dass Missbrauch möglich war?
Wer sein Gewissen erforscht, muss sich fragen: Habe ich Unrecht erkannt? Habe ich widersprochen? Habe ich Kindern und Betroffenen geglaubt? Oder habe ich geschwiegen? Umkehr beginnt nicht bei anderen – sie beginnt bei mir.
Reue – die Ehrlichkeit, sich der eigenen Schuld zu stellen
Wer sein Gewissen ehrlich erforscht, kann der Frage nicht ausweichen: Was bedeutet es, sich schuldig gemacht zu haben? Reue ist mehr als Bedauern oder Betroffenheit über das, was geschehen ist. Sie ist die innere Erschütterung angesichts der eigenen Schuld. Im Bußsakrament ist sie die entscheidende Voraussetzung für jede Bitte um Vergebung – denn nur, wer sich ehrlich seiner Schuld stellt, kann den Weg der Umkehr gehen.
In der Aufarbeitung von Missbrauch bleibt diese innere Erschütterung oft aus. Viel wird über Strukturen gesprochen, über systemische Fehler, über kollektives Versagen. Aber Reue ist nicht kollektiv. Sie kann nur persönlich sein. Wer ehrlich umkehrt, sucht nicht nach Entschuldigungen. Er rechtfertigt sich nicht mit Zwängen der Vergangenheit. Und vor allem: Er versteckt sich nicht hinter der Schuld anderer.
Es reicht nicht, auf diejenigen zu zeigen, die Täter waren oder Verantwortung trugen. Solange sich jeder nur auf das Versagen anderer konzentriert, bleibt die eigene Umkehr aus. Wer wirklich bereut, fragt nicht: „Wer hätte anders handeln müssen?“, sondern: „Was hätte ich tun müssen – und was werde ich in Zukunft anders tun?“
Bekenntnis – Schuld muss ans Licht
Im Bußsakrament folgt auf die Reue das Bekenntnis: Die Schuld muss ausgesprochen werden, damit die Umkehr glaubwürdig ist. Wer um Vergebung bittet, kann sich nicht ins Ungefähre flüchten. Er muss klar bekennen, was er getan oder unterlassen hat.
Genau an dieser Stelle stockt die Aufarbeitung in der Kirche. Vieles bleibt verborgen, vieles wird nur auf äußeren Druck hin benannt. Transparenz wird versprochen – und doch fehlt oft das klare Wort, das das ganze Ausmaß der Schuld offenlegt. Zu viele bleiben vage oder verlieren sich in Allgemeinplätzen. Doch eine Schuld, die nicht bekannt wird, bleibt wirksam.
Bekenntnis ist nicht nur eine Pflicht der Täter. Es betrifft auch jene, die weggesehen haben, die Zweifel verdrängten, die Täter verteidigten oder Betroffene zum Schweigen brachten. Gemeinden, die sich ehrlich fragen: „Was ist bei uns geschehen?“, übernehmen Verantwortung. Gemeinden, die schweigen, tun es nicht.
Ehrliches Bekenntnis bedeutet, Schuld beim Namen zu nennen – nicht als Pflichtübung, sondern um Gerechtigkeit zu ermöglichen. Nur dort, wo Wahrheit ausgesprochen wird, kann Heilung beginnen.
Der feste Vorsatz – Umkehr verlangt Veränderung
Ohne den festen Vorsatz zur Veränderung bleibt jedes Bekenntnis leer. Wer ehrlich umkehrt, nimmt sich vor, das begangene Unrecht nicht zu wiederholen. Im Bußsakrament ist dieser Vorsatz unverzichtbar – denn ohne den Willen zur Besserung verkommt Vergebung zur Beruhigung des eigenen Gewissens.
Wie kann dieser Vorsatz konkret aussehen? Es reicht nicht, Missbrauch als „Versagen des Systems“ zu beklagen. Schuld hatte konkrete Ursachen: Missbrauch wurde begünstigt durch Machtstrukturen, durch fehlende Kontrolle, durch eine Kultur des Schweigens und der Verharmlosung. Wer aufrichtig umkehrt, muss diese Bedingungen ändern.
Doch Veränderung ist nicht nur eine Aufgabe der Institution. Sie beginnt in den Gemeinden, in jedem Einzelnen. Es geht um den Vorsatz, genau hinzusehen. Den Vorsatz, Kindern zu glauben. Den Vorsatz, mutig zu widersprechen. Es geht darum, nicht mehr zu schweigen.
Wirkliche Umkehr zeigt sich nicht in Worten, sondern in Taten. Nur wo aus Reue eine Veränderung erwächst, kann neues Vertrauen entstehen.
Buße und Wiedergutmachung – nicht der Täter bestimmt, was genug ist
Reue allein genügt nicht. Wer Schuld auf sich geladen hat, muss für das Unrecht einstehen. Im Bußsakrament bedeutet das: Buße ist keine Verhandlungssache. Sie wird nicht vom Schuldigen selbst bestimmt, sondern von dem, dem Unrecht geschehen ist. Erst wenn das Opfer sagt: „Das genügt“, ist die Sühne vollbracht.
Genau hier liegt eine der tiefsten Verfehlungen der kirchlichen Aufarbeitung. Allzu oft wurden Wiedergutmachungsmaßnahmen festgelegt, ohne die Betroffenen selbst wirklich einzubeziehen. Entschädigungszahlungen wurden nach internen Kriterien festgelegt, symbolische Gesten als ausreichend erklärt. Doch Wiedergutmachung kann nicht von oben verordnet werden. Sie muss an den Maßstäben derer gemessen werden, die verletzt wurden.
Buße bedeutet, die Entscheidung darüber nicht selbst in der Hand zu haben. Buße bedeutet, sich den Forderungen derer zu stellen, die Unrecht erlitten haben. Sie bedeutet auch, Konsequenzen zu tragen – nicht nur finanziell, sondern persönlich und institutionell. Gerechtigkeit beginnt nicht mit dem Täter, sondern mit denen, die Unrecht erlitten haben.
Ein Neuanfang braucht Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Demut
Die Kirche kennt die Voraussetzungen von Vergebung. Solange Schuld nicht klar bekannt, bereut und wiedergutgemacht wird, kann es keinen Neuanfang geben. Schuld kann nicht mit Schweigen, nicht mit schnellen Versöhnungsgesten und nicht mit dem Verweis auf die Vergangenheit aus der Welt geschafft werden.
Selbst wenn Reue aufrichtig ist, selbst wenn Wiedergutmachung versucht wird – Vergebung bleibt ein Geschenk. Niemand hat ein Recht darauf. Der erlittene Missbrauch kann nicht „wieder gut gemacht“ werden. Die Betroffenen tragen die Folgen ein Leben lang. Möglicherweise ist es deshalb die Aufgabe der Kirche und ihrer Gläubigen, sich dauerhaft um Linderung des Leids zu bemühen – nicht, um Vergebung zu erlangen, sondern weil es das einzig Richtige ist.
Wer Aufarbeitung ernst meint, muss sich den eigenen Maßstäben stellen. Es reicht nicht, sich allgemein „bessere Strukturen“ zu wünschen. Es braucht eine ehrliche Umkehr, die sich in Reue, Veränderung, Bekenntnis, Wiedergutmachung und einer demütigen Vergebungsbitte zeigt.
Auch die Gemeinden stehen vor der Frage, wie sie mit dieser Vergangenheit umgehen. Was wäre, wenn wir wirklich hinsehen? Wenn wir Betroffenen zuhören und das Schweigen brechen? Was für eine Kirche könnte dann entstehen?
Wenn im Dialog mit den Betroffenen Wahrheit gesagt, Schuld anerkannt und Gerechtigkeit gesucht wird, gibt es vielleicht eine Chance – nicht auf eine schnelle Versöhnung, aber auf einen ehrlichen Neuanfang.
Neuanfang nach sexuellem Missbrauch in der Kirche
Tomas Gärtner
Foto: imago/Panthermedia
Suizide lassen sich verhindern. Wie, erörterten Experten auf dem „Sachsensofa“ in Arnsdorf. Dabei wurde auch klar, dass die Prävention nicht nur auf den Schultern von Ehrenamtlichen lasten kann.
Mehr als 10 000 Menschen nehmen sich jedes Jahr in Deutschland das Leben. Mit 17,2 Selbsttötungen pro 100 000 Einwohner hat Sachsen statistischen Angaben von 2022 zufolge bundesweit die höchste Suizidrate.
„Man kann nicht alle verhindern“, sagte Ute Lewitzka auf dem „Sachsensofa“ in Arnsdorf. „Aber doch sehr viele“, betonte die erste Suizidologie-Professorin Deutschlands. Außerdem gab sie zu bedenken, dass noch weit mehr Menschen versuchten, sich umzubringen. Mindestens zehn- bis zwanzigmal so viele, besagen Studien. Neuere sprechen sogar von einer bis zu 50-fachen Anzahl.
Als wirksamster Weg, Menschen davon abzubringen, habe sich erwiesen, ihnen den Zugang zu der von ihnen gewählten Methode zu erschweren. Bei der häufigsten Suizidmethode, dem Erhängen, sei das zwar nicht machbar. Anders sieht es oft aus, wenn Menschen sich auf Schienen legen oder von Brücken springen. Schwerpunktstellen könne man dagegen absichern. Bei Medikamenten ließen sich die Packungen verkleinern.
Lars Rohwer, sächsischer CDU-Bundestagsabgeordneter, hält ein Gesetz zur Suizidprävention für dringend erforderlich – und zwar noch vor dem Gesetz zum assistierten Suizid. Regeln könne das beispielsweise professionelle, hauptamtliche Unterstützung für Vereine. „Wir haben uns bisher auf dem Ehrenamt ausgeruht. Das ist unverantwortlich, auch weil die Finanzierung dieser Projekte oft nicht klar ist.“ Ein Gesetz könne beispielsweise institutionelle Förderung festschreiben. Aber auch wissenschaftliche Forschung sollte gesetzlich verankert werden. Das setzt die Möglichkeit voraus, Erkenntnisse überhaupt erfassen zu dürfen – zum Beispiel, wenn Rettungssanitäter einen Suizidversuch vorfinden. „Ohne Daten und Fakten ist keine wirksame Prävention möglich.“
Derzeit meldeten sich Menschen, die erwägen, sich umzubringen, bisweilen bei der Telefonseelsorge, so Lars Rohwer. Sprächen sie zufällig mit einem, der in dieser Situation richtig reagiere, sei das nur ein Glücksfall. „Deswegen wollen wir eine einheitliche Telefonnummer für Leute mit Suizidgedanken, wo am anderen Ende jemand sitzt, der damit umgehen kann.“
Besonders gefährdet sind Menschen mit Depression. Für sie hat Brigitte Mothes im vogtländischen Auerbach 2016 eine Selbsthilfegruppe gegründet. Mittlerweile gibt es fünf. Halt böten sie vor allem Menschen, die nach mehrwöchiger Therapie entlassen werden. „In deren Familien gibt es dafür kaum Verständnis. Wenn einer von sich jedoch in so einer Gruppe erzählt, verstehen die anderen Betroffenen ihn sofort.“ Brigitte Mothes litt selbst an Depression. „Mit den Aufgaben in der Selbsthilfegruppe bin ich gesundet“, berichtete sie. „Ich hatte das Gefühl, gebraucht zu werden, und habe Anerkennung bekommen.“ Auch an Schulen geht ihre Selbsthilfegruppe. „In Vorträgen informieren wir zum Beispiel darüber: Wie erkenne ich, wenn es jemandem nicht gut geht? Was kann ich da tun?“ Online kümmern sich junge Ehrenamtliche bei „U25“, einem Projekt der Caritas (www.u25.de), um jüngere Selbstmordgefährdete.
Abschließend ermunterten Lars Rohwer und Ute Lewitzka, auch im Alltag offen mit Menschen zu reden, die bedrückt seien.
Sachsensofa zum Thema Suizid
Michael Burkner
Fotos: Michael Burkner
Vor knapp 700 Jahren wird das beschauliche Städtchen Ziesar zur Residenz der Brandenburger Bischöfe und die Burg repräsentativ ausgebaut. Viele Relikte aus der großen Zeit des kleinen Ortes sind bis heute erhalten und machen den Burgbesuch zu einer lohnenswerten Reise ins Spätmittelalter.
Zwei mittelalterliche Fußbodenheizungen, ein Gefängnisraum mit Inschriften der Gefangenen und Wandmalereien – in Ziesar ist die Burg selbst das Hauptexponat. Besonders außergewöhnlich: die Palästinakarte. Das großflächige Wandgemälde ist nur noch in Fragmenten erhalten, Licht- und Klangeffekte bringen diese den Besuchern näher und nehmen sie mit, auf eine Zeitreise:
Bischöflich-repräsentativ: Die Burgkapelle von Ziesar ist mit sogenanntem illusionistischem Maßwerk ausgestaltet – ganz nach den modernsten technischen und künstlerischen Möglichkeiten des Spätmittelalters.
Wir schreiben das Jahr 1335. Im Städtchen Ziesar wird fleißig gebaut. Bischof Ludwig von Neindorf ist Fürstbischof von Brandenburg. Er wählt die Burg Ziesar, strategisch in der Mitte zwischen den Städten Brandenburg und Magdeburg gelegen, zur bischöflichen Residenz und lässt sie nach seinen Vorstellungen ausbauen. Sein langer Aufenthalt im südfranzösischen Avignon schlägt sich dabei in der Architektur nieder und provenzalisches Mittelalterflair zieht in Brandenburg ein. In Frankreich werden ihm auch Pläne über erneute Kreuzzüge ins Heilige Land bekannt – vielleicht ist die Palästinakarte in Ziesar davon inspiriert. Sicher ist, dass die Burg bis zur Reformation Residenz der Bischöfe bleibt, und damit ein wichtiges geistliches Zentrum.
Dabei ist die Region Brandenburg eigentlich ein christlicher Spätstarter. Lange von heidnischen Slawen kontrolliert, etabliert sich hier erst im zwölften Jahrhundert das Christentum dauerhaft. Die Burg Ziesar wird Neben- und später Hauptresidenz der Bischöfe von Brandenburg. 1470 stehen erneute Umbauten an, nach modernsten technischen und ästhetischen Vorstellungen: Eine ungewöhnlich große Kapelle mit repräsentativer Backsteinfassade entsteht, der Wohnbereich bekommt eine spätmittelalterliche Fußbodenheizung, die Räume werden fortan von großen gotischen Fenstern erhellt. Nach der Reformation verliert Ziesar jegliche Bedeutung und verfällt zunehmend. 1819 kommen die Gebäude in Privatbesitz und werden nach dem zweiten Weltkrieg als Flüchtlingsunterkunft und Internat genutzt. Doch bedeutende Relikte aus den glorreichen Jahren des Spätmittelalters können die Zeit überdauern und heute im Burgmuseum bewundert werden.
Eine Dauerausstellung des Museums beleuchtet die Christianisierung der Slawen und die Geschichte der Fürstbischöfe von Brandenburg. Im Erdgeschoss werden Gemälde des impressionistischen Landschaftsmalers Otto Altenkirch präsentiert, wohl der berühmteste Sohn der Stadt. Die Burgkapelle St. Peter und Paul ist seit 1952 das Gotteshaus der katholischen Gemeinde – Ziesar gehört heute zur Pfarrei Sankt Marien Genthin – und mit mittelalterlichen Malereien ausgeschmückt, das Gewölbe ziert ein illusionistisches Maßwerk beeindruckender künstlerischer Qualität. Durch glückliche Umstände ist die Gestaltung gut erhalten: Seit Ende des 17. Jahrhunderts nutzten Calvinisten die Kirche und übermalten ihre Wände mit weißer Farbe. So wurden die ursprünglichen Malereien über die Jahrhunderte konserviert und erzählen noch heute von einer Zeit, in der Bischöfe in Ziesar beteten und residierten.
Reise ins Spätmittelalter