Ruth Weinhold-Heße
Fotos: Ruth Weinhold-Heße
Pilgern liegt im Trend – nicht nur bei Christen. Wie man Pilgergruppen begleitet, lernte Silke Maresch unter anderem in der Sächsischen Wander- und Pilgerakademie. Sie bietet als Malteser-Seelsorgerin jährlich einen Pilgerausflug für Mitarbeiter und Ehrenamtliche an. Werbung muss sie dafür nicht machen.
Die Gruppe von Pilgern läuft schweigend an der Elbe entlang, das letzte Stück auf dem Ökumenischen Pilgerweg – kurz vor dem heutigen Ziel Pirna. Auf den Rücken sitzt teilweise großes Gepäck mit Schlafsäcken. Trinkflaschen baumeln daran oder in den Händen; an den Füßen tragen die meisten Wanderschuhe. Die Sonne steht schon hoch, der Wind ist kühl, die Vögel singen wild durcheinander – sonst herrscht Stille.
Ein ungewöhnlicher Einstieg für eine Reporterin, die eigentlich Fragen stellen soll. Das muss erst einmal warten. Ich reihe mich ein, konzentriere mich auf die Eindrücke aus der Natur, das rhythmische Laufen, die Gedanken, die mir kommen – wann nehme ich mir sonst schon Zeit dafür?
Wie eine Schnur reihen sich die Maltesermitarbeiter auf dem schmalen Weg aneinander. Die Pilgergruppe von 20 Menschen ist bunt gemischt: Unter ihnen sind Christen, Atheisten, feste Mitarbeiter aus ganz unterschiedlichen Gegenden vom Spreewald bis zur Sächsischen Schweiz, ein Drittel von ihnen sind Ehrenamtliche. Viele pilgern zum ersten Mal, so wie Anja Höhne aus Dresden. Nachdem die Schweigezeit beendet ist, erzählt die 38-Jährige begeistert von dieser neuen Erfahrung: „Das Gehen hat mich sofort entschleunigt. Das ist total wichtig in unserer schnelllebigen Zeit.“ Die Malteser-Verwaltungsmitarbeiterin nennt sich selbst „nicht konfessionell, aber spirituell“. Offen für die geistlichen Impulse sollten die Teilnehmer schon sein, aber Vorwissen wird nicht verlangt. Anja Höhne erlebte das dreitägige Seelsorge-Angebot als eine „wunderbare Gemeinschaft“ mit „Klassenfahrtfeeling“. Beeindruckt ist sie besonders von den einfachen Unterkünften: „Das waren meist Räume von Kirchen und wir waren überall willkommen und sind herzlich empfangen worden – wo hat man das heute schon noch?“
„Die Kirchen sind leer, aber die Pilgerwege sind voll“
Pilgern ist gerade in Mode. Und damit ist nicht nur die praktische Outdoor-Kleidung gemeint, sondern die offensichtliche Sehnsucht vieler Menschen, zu sich zu kommen. Beim Gehen, was an und für sich schon meditativ sein kann, gelingt das vielen anscheinend auch. Die Anzahl der Pilger auf der bekanntesten aller Pilgerrouten, dem spanischen Jakobsweg, ist in den Jahren 2003 bis 2024 stetig gestiegen. Ausnahmen bildeten nur Heilige Jahre (da waren es mehr Pilger) und die Corona-Zeit, wo es besonders wenige waren. Trotzdem ist der Trend deutlich zu erkennen: Von unter 100 000 Pilgern noch vor 20 Jahren ist die Zahl auf beinahe eine halbe Million Pilger 2024 angewachsen.
Pilgern ist außerdem ein Angebot von Kirche, bei dem sie automatisch nach außen gehen muss. „Die Kirchen sind leer, aber die Pilgerwege sind voll.“ Dieser Satz aus dem Programm der Ökumenischen Akademie Gera/Altenburg bringt es gut auf den Punkt. Und so sind in den letzten Jahren immer mehr Pilgerherbergen auch in Ostdeutschland entstanden. Wege wurden erschlossen oder wiederbelebt, nicht zuletzt von den Tourismusverbänden unterstützt. In Sachsen wirbt auch Tourismusministerin Barbara Klepsch, selbst Katholikin, für das Pilgern. Zwar machen sich nicht alle Pilger auf den Weg, um Gott zu suchen, aber es ist eine gute Möglichkeit, ihm zu begegnen.
Denn dass das Pilgern eine gewisse Faszination ausübt, liegt gerade an dem geistlichen Angebot, das dahinter steckt. Anja Höhne beschreibt ihre Erfahrung so: „Ich war ganz schnell bei mir selbst und konnte auch das sehen, was so am Wegesrand ist. Worüber ich schon bei der Vorbereitung nachdenken musste: Was brauche ich eigentlich dringend, was ist wirklich wichtig? Denn das fängt ja beim Packen schon an.“ Aus der Packliste von Anja Höhne („Das Make Up bleibt zu Hause!“) wurde die Frage nach dem, was wirklich zählt im Leben. Der Gedanke begleitete sie weiter – auch durch die Impulse und die erlebte Gemeinschaft. Am Ende, erzählt sie, genoss sie es auch, dass jemand anderes die Reiseroute plante und sie als Mutter mal keine Verantwortung übernehmen musste, einfach nur mitgehen und sich mit anderen austauschen konnte über ihr Leben. „Das war wie eine gute Therapie für mich.“
Liane Börner aus Dresden beschreibt, wie vor allem das Schweigen sie bereichert hat: „Wir haben in einer Kirche gesungen, bevor wir gestartet sind, und haben die Melodie mit ins Schweigen genommen. Dabei konnte ich besonders gut meinen Gedanken nachgehen.“ In der Danke-Runde am Ende der dreitägigen Pilgertour sagt eine Teilnehmerin noch: „Durch das Schweigen bin ich erst richtig zur Ruhe gekommen und angekommen bei mir.“
Silke Maresch ist Malteser-Seelsorgerin und hat das Mitarbeiterpilgern initiiert.
Pilgern in Etappen und kleinen Gruppen
Hinter dem Angebot des Mitarbeiterpilgerns der Malteser in den Bistümern Dresden-Meißen und Görlitz steht Silke Maresch. Sie ist Seelsorgerin für über 2000 Mitarbeiter. Die Angestellten in den caritativen Einrichtungen sind längst nicht nur Christen, dazu kommen Ehrenamtliche, wie in der Hospizarbeit. „Der Hintergrund für meine Arbeit ist, dass wir erklären müssen, wer wir sind und dass die Grundintention für unsere Arbeit das christliche Menschenbild ist. Wir erklären, warum wir die Dinge so tun, wie wir sie tun“, so Maresch. Das dreitägige Mitarbeiterpilgern ist eines der Angebote, wo sie das gut kann. In einer kleineren Gruppe kann es eine intensive Erfahrung für alle werden. „Ich habe das aus dem Bauch heraus gemacht, weil ich selber gerne pilgern gehe. Als meine Kinder noch klein waren, bin ich mit Freundinnen in Etappen gepilgert, immer von Donnerstag Abend bis Sonntag“, erzählt sie. Bei den Maltesern ging sie deshalb auch den Ökumenischen Pilgerweg durch Sachsen in Etappen, in diesem Jahr von Großenhain bis Riesa.
Bereits zum vierten Mal bot sie das Pilgern für Mitarbeiter an, die ihre Dienstzeit dafür nutzen können. „Ich brauche keine Werbung zu machen, die Plätze sind immer schnell weg. Es durchmischt sich auch immer wieder neu, weil nicht alle, die beim letzten Mal dabei waren, wieder kommen können.“ Wenn es nach den Nachfragen ginge, könnte Silke Maresch noch größere Gruppen voll bekommen. „Die gemeinsame Zeit fördert den Gemeinschaftssinn und ist kein Urlaub“, betont sie. Ab einer gewissen Anzahl an Personen werde es aber schwierig, Unterkünfte zu bekommen. Auch andere Fragen der Organisation werden herausfordender, denn nicht alle können gleich schnell laufen.
Was Silke Maresch dabei geholfen hat, mit den Maltesergruppen unterwegs zu sein, ist die Christliche Pilgerbegleiter-Ausbildung der sächsischen Wander- und Pilgerakademie. „Die Ausbildung hat mich vor allem darin bestärkt, dass es prinzipiell richtig ist, was ich mache“, so Maresch. Auf dem Kursprogramm steht natürlich das praktische Planen, Vorbereiten und Durchführen von ein- oder mehrtägige Pilgertouren für Gruppen. „Tricks, wie die richtigen Wege-Apps oder wie ich Unterkünfte finde, habe ich neu gelernt.“ Ein wichtiger Punkt sei auch, wie Pilgerbegleiter mit schwierigen Situationen umgehen, wenn jemand nicht mit der Gruppe mitkommt etwa. Vorerfahrungen in Gruppenarbeit hatte Silke Maresch bereits und als Malteserin hat sie das Glück, eigentlich immer einen Rettungssanitäter in der Gruppe dabei zu haben. „Sehr interessant fand ich aber den Teil der Kirchenpädagogik, wo ich neue Methoden lernen konnte, wie ich Menschen Kirchen nahebringen kann.“ Wenn rund 70 Prozent der Bevölkerung keinen Bezug zu Kirche mehr haben, müsse sie manchen der Mitpilger erklären, wie sie sich in Kirchen verhalten können.
Etwas mitnehmen in den Alltag
„Neben dem Austausch in der Gruppe ist mir in der Vorbereitung wichtig, Menschen vor Ort zu finden, mit denen wir ins Gespräch kommen können“, sagt Silke Maresch weiter. So habe ihre Gruppe im letzten Jahr mit einer der Zisterzienserinnen aus dem Kloster Marienstern gesprochen, in diesem Jahr besuchten sie die „Pilgeroase JVA Zeithain“, eine Pilgerraststätte mit Begegnungsgarten. Sie ist ein Projekt der Gefängnisseelsorge in Zeithain. Bei einem erfrischenden Getränk können die Pilger Gespräche mit Gefangenen führen, die dadurch ebenfalls bereichert werden. Das habe die Teilnehmer beeindruckt.
Am Ende der Pilgerreise bekommen die Teilnehmer noch ein kleines „echt katholisches“ Geschenk von den Verantwortlichen: Eine kleine weiße Dose mit einem Mini-Rosenkranz („Als Zeichen dafür, dass jeder eine kleine Perle in der Gemeinschaft ist.“), einem Fläschchen Weihwasser („Als Symbol dafür, dass wir alles von Gott bekommen werden, was wir brauchen.“) und einem kleinen Kreuz („Zur Erinnerung an Jesus Liebe, weil er für uns am Kreuz gestorben ist.“). Das Döschen lässt sich wie eine Mini-Erste-Hilfe-Schachtel leicht im Gepäck verstauen.
„Das Beste wäre natürlich, wenn die Leute das, was sie hier kennengelernt haben, selber weiter machen. Sich mit Freunden zusammenschließen und weiterpilgern“, wünscht sich Silke Maresch. Soweit ist ihr Anliegen auch erfolgreich, denn einige der Teilnehmer haben sich vorgenommen, den Ökumenischen Pilgerweg noch einmal selbst in Görlitz zu beginnen und gen Westen zu pilgern. Für die Malteser steht im nächsten Jahr das letzte sächsische Stück von Riesa nach Leipzig auf dem Plan, danach werden neue Pilgerwege ausprobiert.
Pilgertour der sächsischen Malteser
Johanna Marin
Foto: Johanna Marin
Seit 20 Jahren hält Ruheständler Peter Bogdan im Caritas Altenpflegeheim Bischof-Weskamm-Haus in Magdeburg jeden Freitag die heilige Messe. Seine Gemeinde wächst – nicht zuletzt, weil der 90-Jährige sich stets die Freude am Leben behalten hat.
Unter seiner Albe lugen weiße Turnschuhe hervor, als er durch die kleine, lichtdurchflutete Kapelle zum Altar geht. Er läuft an den Damen und Herren im Rollstuhl vorbei, die auf der linken Seite im Halbkreis sitzen, und an denen auf der anderen Seite, die ihre Rollatoren vor sich geparkt haben. In zweiter und dritter Reihe haben diejenigen Platz genommen, die keine Gehhilfe benötigen.
Seit 20 Jahren hält Pfarrer Peter Bogdan die heilige Messe im Bischof-Weskamm-Haus, dem Altenpflegeheim der Caritas in Magdeburg, in dessen Nähe er nach dem Eintritt in den Ruhestand zog. Inzwischen ist er selbst 90 Jahre alt. „Wir sind die Spätlese“, eröffnet er den Gottesdienst, „wir feiern Fronleichnam an einem Freitag um 10.30 Uhr. Denn der Gottesdienst ist für die Menschen da.“ Jeden Freitag feiert er hier eine Sonntagsmesse mit einer wachsenden Gemeinschaft. Die, die noch singen können, tun das kräftig und aus vollem Hals. Die anderen wippen mit den Füßen im Takt. Viele können nicht mehr allein in die Kapelle kommen, brauchen Ehrenamtliche und Pfleger, die schieben oder den Weg weisen. Doch sonntags ist weniger Personal da. Unter der Woche ist es leichter, an helfende Hände zu kommen.
Im Ruhestand viel freier
„Es ist schön, dass Peter nach seinem Ruhestand weitergemacht hat“, sagt Bernhard Beier, ehemaliger Hausmeister des Hundertwasserhauses in Magdeburg und einer der Ehrenamtlichen, „er kann das jetzt viel freier machen und muss nicht mehr auf Bischöfe hören.“ Deshalb kann Peter Bogdan zum Beispiel freitags den Sonntag feiern. Auch Frauen dürften seiner Meinung nach gern am Altar stehen, sagt er: „Wenn das Herz an der richtigen Stelle ist, kann jeder hier vorne stehen. Aber es muss echter Glaube und ehrliche Überzeugung sein.“ Peter Bogdans eigener Glaube wird in der Messe sichtbar: Als ihm eine Hostie runterfällt, beugt er seine 90-jährigen Knie, um sie behutsam wieder aufzuheben.
Die Gottesdienste hält Peter Bogdan nicht allein: Initiiert hat sie Margitta Diehl. Sie ist „Zeitstifterin“ in der Diehl-Ziesewitz-Stiftung, die ihr Mann Norbert ins Leben gerufen hat. Er wollte einen Ort schaffen, an dem Menschen sich begegnen, die es sonst schwer haben: Alte, Menschen mit Behinderung, Geflüchtete. Dafür haben die Diehls ein großes, rollstuhlgerechtes Haus gebaut. Auch die Kreuzkapelle des Bischof-Weskamm-Hauses wollte Margitta Diehl wieder mit Leben füllen. „Und dann ist Peter vor 20 Jahren hier in die Nähe gezogen“, betont sie. Er feierte die Messen, sie lud die Menschen aus dem Heim ein. Heute hält sie die Predigt. Sie spricht vom Hunger nach dem Brot des Lebens. „Ich kenne echten Hunger nicht mehr“, sagt sie, „aber einige, die hier in der Kapelle sitzen, schon – aus Zeiten nach dem Krieg.“
Auch Peter Bogdan hat noch echten Hunger erlebt: Er stibitzte Kartoffelschalen aus dem Karnickelstall, nachdem er auf offenen Güterzügen aus Dresden nach Groß Ammensleben floh, kurz vor der Bombardierung im Februar 1945. „Als der Krieg vorbei war, haben die Leute in der Kirche Gemeinschaft gefunden“, erzählt er. Das, so vermutet der Priester, ist der Grund, wieso die alte Generation in der Kirche bleibt – und seine Gemeinde hier in der Kreuzkapelle wächst.
Dienst am Altar statt in der Eisenbahn
„Und dann kam die doofe DDR und wollte uns sagen, was wir tun sollen und dürfen – das konnte ich nicht!“, erzählt Peter Bogdan. Nach seinem Abitur 1954 hatte er ein Studium als Eisenbahner in Erfurt begonnen. Umgeben war er von Kommilitonen, die vom Sozialismus überzeugt waren. Der damalige Student hingegen feierte jeden Tag den Gottesdienst im Erfurter Dom mit und entschied sich, Priester zu werden: „Ich habe einen Schritt gewagt, von dem ich gar nicht wusste, ob ich das durchhalte.“
Bald nach seiner Weihe 1964 trat Peter Bogdan eine Stelle in Zeitz an. Ganz in der Nähe, in Droyßig, befand sich eine Parteischule der SED. Eine dort eingeschriebene Studentin hatte Pfarrer Bogdan Fragen zum Glauben gestellt, er lieh ihr Bücher. Daraufhin exmatrikulierte der Schulleiter sie, drangsalierte den Pfarrer mit nächtlichen Anrufen. „Also habe ich ihn aufgesucht und gesagt: Ich möchte gerne die Bücher, die Sie gestohlen haben“, erinnert er sich. Er bekam sie. Später wurde er Seelsorger für politische Gefangene. „So schlimm das alles war – die DDR stand mir bis zum Hals“, sagt er, „als die Wende kam, da war ich so happy! Ich habe mit Freunden in Roßbach Wein getrunken und wir haben im Gras gelegen und gefeiert!“ Bei der Erinnerung breitet Peter Bogdan die Arme aus und lacht.
Er lacht viel, auch bei der Erinnerung an eine Reise mit seinen Priesterkollegen. Sie waren auf der Suche nach einem Exerzitien-Haus und fragten einen Herrn an einer Bushaltestelle nach dem Weg. „Und wissen Sie, was der verstanden hat?“, Peter Bogdan lacht laut los: „‚Wo ist denn das Exorzisten-Haus?‘ Da hätte ich ihm gerne geantwortet, dass er das vielleicht selber brauche.“
„Peter hat unsere Herzen aufgeschlossen“, sagt Margitta Diehl vor der Freitagsgemeinde, die sich in der Kreuzkapelle versammelt hat. Vielleicht kommen die vierzig bis fünfzig Gottesdienstbesucher hier jede Woche, weil die Menschen Kirche wirklich noch als Gemeinschaft erlebt haben, wie Peter Bogdan sagte. Vielleicht liegt es aber auch ein kleines bisschen daran, dass Pfarrer Bogdan den Menschen zugewandt ist. Bevor er in das Auto steigt, das ihn nach Hause bringen soll, öffnet der 90-Jährige den anderen Mitfahrern die Tür und sieht zu, dass alle sicher sitzen.
Ruhestandspriester Peter Bogdan genießt die Freiheiten des Alters
Gregor Mühlhaus
Fotos: Gregor Mühlhaus
Auch Schülersprecherin Elisa Orlob half bei der Grundsteinlegung.
In Leinefelde legte Bischof Ulrich Neymeyr den Grundstein für das katholische Schulzentrum St. Elisabeth. Kritiker befürchten, dass das Projekt zu viel Geld verschlingt. Die Besucher der Grundsteinlegung hingegen freuen sich darauf, dass die Schule in zwei Jahren eröffnen kann – die ersten Eltern haben ihre Kinder bereits angemeldet.
Es ist das größte Bauprojekt des Bistums Erfurt in seiner Geschichte. Das neue katholische Schulzentrum in der Leinefelder Südstadt soll zum Beginn des Schuljahres 2027/28 bezugsfertig sein. So jedenfalls sehen es die Planungen vor, die von den Bauverantwortlichen bei der Grundsteinlegung während eines Festakts auf der Baustelle vorgestellt wurden.
„Der Neubau des katholischen Schulzentrums St. Elisabeth in Leinefelde stemmt sich gegen die Notwendigkeiten der Zeit. Auch im Bistum Erfurt ist die Zahl der Kirchenmitglieder rückläufig. Trotzdem bauen wir eine neue Schule, es ist die größte Investition in der Geschichte unseres jungen Bistums“, begann Bischof Ulrich Neymeyr seine Festrede. Es ermutige ihn, dass schon jetzt der Zuspruch für das neue Bildungshaus unverkennbar sei. Viele Eltern meldeten ihre Kinder bereits an der Schule an, obwohl das Gebäude erst in gut zwei Jahren bezogen werden könne, sagte Neymeyr. „Für das neue Schuljahr an der bisherigen Bergschule in Heiligenstadt wurden zum ersten Mal so viele Kinder angemeldet, dass wir nicht alle aufnehmen konnten.“
Dann wandte sich der Generalvikar des Bistums, Dominik Trost, den Gästen zu. Als er erfahren habe, dass das Bistum in Leinefelde eine neue Schule bauen wolle, habe sich in ihm große Skepsis und Widerstand geregt. Er habe sich die Frage gestellt: „Wollen wir wirklich so viel Geld in die Hand nehmen“? Schließlich habe sich seine Skepsis gelegt, so Trost. „Eins bleibt aber. Dieses Projekt ist aktuell das heißeste und emotionalste Thema auf meinem Schreibtisch“, so der Generalvikar weiter. Was bleibe sei, ob die Kritiker recht behielten, die die Schule als goldenes Kalb und Millionengrab des Bistums bezeichneten oder ob die Befürworter Recht haben, die meinten, dass das Vorhaben mit Freude und Zustimmung angenommen werde. Er werde alles mit dem Bischof dafür tun, damit letzteres zutreffe, sagte Trost.
Schließlich hatte Bischof Neymeyr die Ehre, die Zeitkapsel, die in den Grundstein eingelassen wurde, zu segnen. In der röhrenförmigen Kapsel sind außer Bauplänen und Fotos eine aktuelle Tageszeitung und Münzen.
Das noch bestehende Gymnasium „St. Elisabeth“ in Heiligenstadt – die Bergschule – ist von der Größe her an seine Kapazitätsgrenze angelangt. Obendrein gibt es im Heiligenstädter Schulkomplex noch eine Berufsschule und nebenan einen katholischen Kindergarten. Die neue Schule wird 14 000 Quadratmeter umfassen und auch einen Realschulzweig beherbergen.
Hans-Peter Kaes, der Direktor des katholischen Gymnasiums sagte, er sei dankbar und beeindruckt. Sein Dank gelte dem Bistum. „Viele Rädchen mussten gedreht werden, um in verantworteter Weise sagen zu können: Wir entscheiden uns gegen den Trend anderer Bistümer. Wir bauen sogar eine Verbundschule. Wir investieren in erheblichem Umfang in dieses Vorhaben.“
Katholisches Schulzentrum „St. Elisabeth“ Leinefelde
Im Juli 2021 fuhr der afghanische Lastwagenfahrer Ibrahim über eine in der Straße vergrabene Bombe. Sein 17-jähriger Begleiter starb bei der Explosion, Ibrahim wurde schwer verletzt.
Über Ibrahims Schwager, der in Plauen lebt, erfuhren wir von dem Schicksal und begannen, uns für Ibrahim einzusetzen. So erschien im April 2022 auch im TAG DES HERRN ein Artikel, in dem wir um Spenden für dringend notwendige Operationen baten.
Damals hatten wir von Plauen aus versucht, Möglichkeiten für die medizinische Behandlung zu finden, für die Spezialisten notwendig waren. Nach vielen erfolglosen Bemühungen vor Ort in Afghanistan und auch Pakistan schien damals die Operation in Österreich kurz bevorzustehen. Leider war das eine Sackgasse, da Österreich trotz Absicherung aller notwendigen Bedingungen kein Visum erteilte. Wir gaben nicht auf, suchten nach anderen Wegen und Möglichkeiten an verschiedenen Orten in Pakistan, was erfolglos war. Wir versuchten es dann im Iran, wo wir Kontakt zu einem Arzt aufnahmen, der uns mittlerweile ein großer Unterstützer geworden ist. Hier waren die Bemühungen erfolgreich.
Ibrahim wurde inzwischen mehrfach operiert. Für seinen verletzten Kiefer wurde kürzlich eine Prothese eingesetzt, die nun einheilen muss. Inzwischen kann Ibrahim wieder eingeschränkt essen und sprechen und mit einfachen Tätigkeiten zum Lebensunterhalt seiner Familie beitragen. Aber weitere Operationen stehen noch bevor: Eine bereits angefertigte Augenprothese soll bald eingesetzt werden. Außerdem müssen ein Ohr und Teile des Gesichts rekonstruiert werden. Dafür ist schätzungsweise eine mittlere vierstellige Summe nötig. Wir bitten sehr herzlich noch einmal um Spenden, damit der noch junge Mann wieder ein ansehnliches Gesicht erhält und der mit allem verbundene seelische Schmerz ein erträgliches Maß erhält.
Allen bisherigen Spendern sei an dieser Stelle von Herzen gedankt. Ohne Sie wären die Behandlungen nicht möglich gewesen. Unser Anliegen ist es, Ibrahim wieder ein Gesicht zu geben. Bitte helfen Sie uns dabei.
// Christa Ottiger und Barbara Sörgel aus Plauen
Solidarisch sein – einem Kriegsopfer helfen
Pater Josef kleine Bornhorst
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Am 29. April durften wir den 100. Geburtstag meiner Mutter feiern. Wir haben mit ihr gefeiert, mit großer Freude und Dankbarkeit für ein langes Leben.
Pater Josef kleine Bornhorst Dominkanerkloster Leipzig
Ihr Leben war nicht immer leicht, es gab auch schwere Zeiten, so der Tod meiner Zwillingsschwester mit 16 Jahren. Aber meine Mutter lebt heute mit viel Freude und Gottvertrauen bei relativ guter Gesundheit. An ihrem Geburtstag wurde sie gefragt: „Wie wird man 100 Jahre?“ Ihre schlagkräftige, spontane Antwort: „Immer weiteratmen, nicht aufhören, immer weiteratmen!“
Ja, der Atem, die Atmung, gehört zu uns Menschen. Von der ersten bis zur letzten Sekunde des Lebens atmen wir aus, atmen wir ein, täglich etwa 20 000 Mal. Dabei werden rund zwölf Kubikmeter Luft bewegt.
Die Bedeutung der richten Atmung ist wesentlich für die Gesundheit und hilft den Menschen mit Ruhe und mit Balance gut zu leben. Für Sportler, Musiker, Sänger, Schauspieler, Tänzer ist die richtige Atemtechnik die entscheidende Grundlage, ihr Können mit viel Ausdauer durchzuhalten, so dass die körperliche Höchstleistung trotzdem leicht rüberkommt. Die richtige Atmung ist hier das Geheimnis.
Sie hilft auch mir und uns Ordensleuten beim Chorgebet, beim Gesang, bei der Predigt, bei der Meditation. Gottes Atem darf in mir fließen und nur so kommt meine Seele bei Gott zur Ruhe. Auch die richtige Atempause zu setzen, ist die Kunst der Rhetorik.
Viele fahren in diesen Tagen in die Ferien, machen Urlaub, lassen die Seele baumeln, wandern – atmen gleichmäßig durchs Wasser, kommen außer Atem beim Aufstieg des Berges, genießen mit ihrem Atem die Luft, atmen die Natur ein und schöpfen neue Kraft und spüren: Auch Gottes Atem lebt in mir.
Anstoß 14/2025
Andreas Kaiser
Foto: imago/Funke Foto Services
Sprachunterricht abseits der Koranschulen: Die Ibn-Khaldun-Schulen setzen sich für Freiheit und Toleranz ein.
In Berlin-Neukölln gibt es massive Integrationsprobleme. Hudhaifa Al-Mashhadani will als Leiter der Sprachschule Ibn Khaldun gegensteuern. Er wirbt für Toleranz und Demokratie und setzt mit seinem Antisemitismusprojekt dort ein Zeichen gegen Judenhass, wo er besonders verbreitet ist.
In Berlin-Neukölln sehen etliche Straßenzüge eher aus wie ein arabisches Viertel in Nahost als wie eine deutsche Metropole. Statt Kuchen gibt es Baklava. In vielen Bekleidungsgeschäften hängen Burkas und Palästinensertücher aus. Das religiöse Leben vieler Zuwanderer wird von Moscheegemeinden bestimmt, „die einem radikalmuslimischen Gedankengut anhängen und es verbreiten“, sagt der deutsch-irakische Politikwissenschaftler Hudhaifa Al-Mashhadani. Vor allem die Muslimbruderschaft und die islamistische Bewegung Hizb ut-Tahrir, die die Errichtung eines globalen Kalifat-Staates postuliert, seien hier aktiv, sagt er: „Denen geht es nicht um Integration, sondern um die Verbreitung einer Ideologie. Sie arbeiten gegen die demokratische Gesellschaft in Deutschland. Über Imame und die sozialen Medien verbreiten sie Hass und Antisemitismus.“
„Ich stehe auf der Todesliste der Hamas“
Al-Mashhadani ist Generalsekretär des Deutsch-Arabischen Rates und Leiter der säkularen Ibn-Khaldun-Sprachschulen mit rund 1000 Schülerinnen und Schülern. Die Schulen mit Standorten in Berlin, Chemnitz, Dortmund und Köln setzen sich bewusst gegen die Bildung von Parallelgesellschaften und für den interkulturellen Austausch ein. Gegründet wurde das Projekt von arabischen Akademikern. Sie wollten damit ihren Kindern einen heimatkundlichen Sprachunterricht abseits der Koranschulen ermöglichen. „Mit unserem Engagement setzen wir außerdem ein starkes Zeichen gegen Terror und Antisemitismus. Wir wollen sozialen Frieden in Neukölln“, sagt Al-Mashhadani.
Hudhaifa Al-Mashhadani im Hinterhof seiner Schule. Foto: imago/Funke Foto Services
Wie weit sich etliche Zuwanderer Neuköllns vom demokratischen Konsens verabschiedet haben, wurde in der Vergangenheit immer mal wieder deutlich. Etwa am alljährlichen, sogenannten Al-Quds-Tag, an denen Muslime zur Eroberung Jerusalems aufrufen. Früher blieben solche Demonstrationen, auf denen manche arabische Zuwanderer ihren Israel-Hass herausschreien, noch die Ausnahme. Seit dem Massaker der Hamas an israelischen Bürgern und dem nachfolgenden Krieg in Gaza hat sich die Lage in Neukölln jedoch verschärft. Über Monate kam es im Kiez zu pro-palästinensischen Demonstrationen, Juden wurden zusammengeschlagen, Autos gingen in Flammen auf, Polizeibeamte wurden mit Pyrotechnik beschossen.
Stefanie Dietrich. Foto: Malina Ebert
Das gefiel Al-Mashhadani, der sich bereits im Irak gegen den Islamismus starkgemacht hatte, überhaupt nicht. Sofort ging er selbst auf die Straße, mischte sich ein, besuchte abends die Familien von gewaltbereiten Jugendlichen. An seiner Schule richtete er mit der Schauspielerin Stefanie Dietrich, der Mutter eines deutsch-arabischen Kindes, das Antisemitismus-Projekt Goom ein. Zudem wurde dort ein Hebräisch-Unterricht etabliert. „Seitdem stehe ich auf der Todesliste der Hamas“, sagt Al-Mashhadani. Die Ibn-Khaldun-Schule wurde mehrfach mit islamistischen Parolen beschmiert. „Einmal flogen sogar Steine ins Klassenzimmer und haben mehre Schülerinnen und Schüler verletzt“, erinnert sich die Ehrenamtlerin Dietrich. Seither steht die Neuköllner Schule unter Polizeischutz. Der Staatsschutz nahm Ermittlungen auf. Bislang allerdings erfolglos.
Von den Anfeindungen beirren lassen wollten sich Al-Mashhadani und seine 24 Lehrerinnen an der Neuköllner Schule jedoch nicht. Sie machten weiter. Und haben neuerdings sogar vermehrt Zulauf. „Erst neulich sind 70 Mädchen im Alter von 9 bis 13 Jahren auf einmal zu uns gekommen. In einer Koranschule hatte man sie von einem Tag auf den anderen gezwungen, sich ein Kopftuch aufzusetzen“, erinnert sich Dietrich.
Vor gut einem Jahr organisierte Dietrich mit Al-Mashhadani und dem Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) ein Treffen von 120 arabischstämmigen Berliner Jugendlichen mit 40 jungen Israelis. Die Stimmung war rasch ausgelassen. „Man tauschte sich über Berliner Clubs und die besten Strände in Israel aus“, erinnert sich Dietrich. Freundschaften entstanden. „Nach 75 Jahren Krieg in Israel und Nahost möchte ich endlich eine neue Generation haben. Ich möchte, dass David und Mohammed in Zukunft friedlich auf der gleichen Straße spazieren gehen können“, sagt Al-Mashhadani. In den Neuköllner Moscheen jedoch werde das Gegenteil propagiert. „Die Mädchen sollen jung heiraten. Araber sollen unter sich bleiben. Vertraut den Deutschen nicht. Und Judenhass“, so fasst der Politologe in seinem noch etwas gebrochenem Deutsch den Duktus der Koranschulen zusammen.
Viele sind zum Wandel bereit
Die 18-jährige Scheerin Saadi.Foto: Andreas Kaiser
Diese feindselige Grundstimmung ist auch Stefanie Dietrich nicht verborgen geblieben. Sie glaubt jedoch, dass das Gros der arabischen Zuwanderer bereit zum Wandel sei. „Das Problem ist, dass die Radikalen und die Nicht-Integrationsbereiten immer viel lauter agieren. Und viele Araber haben es einfach nicht gelernt haben, öffentlich Position zu beziehen. In ihrer alten Heimat liefen sie Gefahr, dafür erschossen zu werden“, sagt Dietrich.
Finanziert wird die Ibn-Khaldun-Schule ausschließlich über private Mittel. Alle Versuche einer öffentlichen Förderung scheiterten bisher. Rund 3000 Menschen engagieren sich im Elternbeirat und die meisten von ihnen tragen Al-Mashhadanis interkulturellen und interreligiösen Kurs voll mit. Für viele liberale Migrantenkids ist das Schulgebäude in der Uthmannstraße zu einem „Safe-Space, einem sichereren Ort“ geworden, berichtet etwa die 18-jährige Scheerin Saadi. Sie sieht zwar, dass viele arabische Zuwanderer in Sachen Toleranz noch einen langen Weg vor sich hätten. Aber sie sagt: „Allein schon, weil wir hier sind und mit dem, was wir machen, bringen wir andere zum Nachdenken.“
Wie eine Neuköllner Sprachschule Antisemitismus und Islamismus bekämpft
Michael Burkner
Fotos: Michael Burkner
In der Montagehalle wird jede Orgel einmal auf- und wieder abgebaut.
Seit 1820 werden im Potsdamer Land Orgeln gebaut – über politische Grenzen, Gräben und Umbrüche hinweg. Orgelbaumeister Matthias Schuke und seine Söhne Michael und Johannes erzählen, wie ihre Firma die DDR überlebte, warum Schuke-Orgeln in Russland erklingen und wie sie die Zukunft des Orgelbaus sehen.
Zigarettenrauch und der scharfe Abgang von Wodka im Rachen begleiteten den deutsch-russischen Handschlag: „Den Vertrag habe ich in einer Kneipe unterschrieben. Alles war auf Russisch, ich musste mich vollkommen auf die Übersetzerin verlassen. Eine Woche später hatten wir das ganze Geld auf dem Konto. Solch ein großes Vertrauen hatte ich so noch nie erlebt“, erzählt Matthias Schuke. Der Orgelbaumeister lacht bei der Erinnerung verschmitzt in seinen weißen Vollbart hinein und berichtet weiter: „Die Arbeit am Königsberger Dom hat großen Spaß gemacht, wir hatten ein sehr gutes Verhältnis zu Dombaumeister Igor Odinzow. Das war ein einmaliger Mann – unglaublich streitsüchtig, aber nur, weil er immer das Beste für seinen Dom wollte.“
Orgelbau umfasst viele verschiedene Arbeitsschritte: Ein Mitarbeiter poliert eine Prospektpfeife.
Odinzows Dom steht in Kaliningrad und wurde in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs zur Ruine. Der Dombaumeister baute das gotische Gebäude ab 1992 als Gottesdienst- und Veranstaltungsraum wieder auf. Was ihm Anfang des Jahrtausends noch fehlte: eine Orgel oder besser: zwei Orgeln. 2006 baute Matthias Schuke eine Chororgel, zwei Jahre später folgte die Vertragsunterschrift in der Kneipe und der Bau einer Hauptorgel, wohl nur dank der finanziellen Zuwendung eines einflussreichen Unterstützers: Wladimir Wladimirowitsch Putin. 90 Register, also Stimmfarben, und mehr als 6000 Pfeifen fanden auf der Empore in einem Gehäuse usbekischer Produktion Platz, das sich an der barocken Vorgängerorgel des 18. Jahrhunderts orientierte. Diese stammte vom Orgelbauer Mosengel aus Eisenach. Deutsche Orgelbaukunst hatte also schon Tradition am Frischen Haff, als Matthias Schuke und sein Team zu Werke gingen.
Sowjetfreundschaften und Westgeld in der Vergangenheit
Die Orgelbaufirma, die heute den Namen „Alexander Schuke“ trägt, wurde 1820 von Gottlieb Heise in Potsdam gegründet. Seit 1894 befindet sie sich mit einer kurzen Unterbrechung im Besitz der Familie Schuke. Damals übernahm Namensgeber Alexander Schuke die Werkstatt. Später führten seine Söhne Hans-Joachim und Karl die Arbeit fort und entschlossen sich 1950 zur Trennung: Karl gründete eine Firma in West-Berlin, Hans-Joachim blieb vor Ort in Potsdam. Bald lag eine Mauer zwischen den beiden Brüdern – und ein tiefer Graben verschiedener politischer Systeme. Während Karl Schuke von der Marktwirtschaft profitierte, musste Hans-Joachim Schuke seine Firma in der sozialistischen Planwirtschaft etablieren. „Die DDR-Führung wollte ein Kombinat aus den vier ostdeutschen Orgelbaufirmen machen. Da haben die Orgelbauer gesagt: Das könnt ihr knicken, das funktioniert nicht“, erinnert sich sein Sohn Matthias heute. Die väterliche Firma habe über die gesamte DDR-Zeit hinweg Orgeln gebaut, dank zwei besonderer Umstände: „Wir konnten Orgeln in den Westen exportieren. Das war für die Regierung hochinteressant, die war richtig scharf auf die Devisen“, erklärt Matthias Schuke. Außerdem profitierte die Firma von der Unterscheidung zwischen Industrie- und Bevölkerungspreis. Die Kirchen galten als vom Staat getrennt, folglich stand ihnen und dem Orgelbau der niedrigere Privatpreis zu. In der DDR-Zeit entstanden herausragende Instrumente, darunter die Chororgel des Erfurter Doms, die Hauptorgel der evangelischen Marktkirche in Halle und die Konzertorgel im Gewandhaus zu Leipzig.
Die Schuke-Orgeln im Erfurter DomGleich zwei Orgeln der Firma Alexander Schuke erklingen im Erfurter Dom: Die Hauptorgel mit 63 Registern und die Chororgel mit 29 Registern. An einem Generalspieltisch können beide Orgeln sowie ein kleines Orgelpositiv der Firma Kutter gemeinsam gespielt werden. So werden die Orgeln verbunden und ergänzen sich: Die Hauptorgel hinten auf der Empore ist symphonisch und hat ein großes, voluminöses Klangvolumen. Die Chororgel vorne ist demgegenüber schlanker im Klang. Dabei sind beide Orgeln in ihrem jeweiligen Raum – die Hauptorgel im Langhaus, die Chororgel im Chor – vorherrschend und füllen diesen gut aus. Gerade im Langhaus ist die Akustik mit einer mittleren Nachhallzeit von fünf bis sechs Sekunden orgelfreundlich. Durch die niedrige Orgelempore und die Nähe des Instruments zu den Bänken ist das Musikerlebnis sehr unmittelbar. Die Schuke-Orgeln ermöglichen eine Vielfalt an Klängen und können Musik aus allen Epochen darstellen. Ihr Klang ist charakterstark und berührt emotional.(Silvius von Kessel, Erfurter Domorganist)
Doch die großen Aufträge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere die Jahre unter Erich Honecker alles andere als rosig waren. 1972 wurde die Firma zum „Volkseigenen Betrieb“ (VEB) verstaatlicht und Hans-Joachim Schuke zum Angestellten im eigenen Haus. „Das hat meinen Vater gebrochen“, sagt Sohn Matthias heute. 1979 starb Hans-Joachim Schuke. Sein Mitarbeiter Max Thiel übernahm für einige Jahre, ehe er die Firma zurück in Familienhände gab, an Matthias Schuke. Dieser machte mit der Wende von seinem Vorkaufsrecht Gebrauch und reprivatisierte den Betrieb. Neben dem Personal konnten auch die Aufträge des VEB übernommen werden, darunter der Bau der Hauptorgel im Erfurter Dom und die Rekonstruktion der 370 Jahre alten Orgel von St. Stephan in Tangermünde. Auch die guten Kontakte in die Sowjetunion, wo seit dem zweiten Weltkrieg 14 Instrumente entstanden waren, überdauerten die politischen Umbrüche. Schon 1991 baute Matthias Schuke eine Orgel für einen Konzertsaal am Eismeer von Archangelsk, die Projekte in Kaliningrad folgten. „Über Jahrzehnte hinweg waren wir in Osteuropa mit Menschen aus Kultur, Kirche und Handwerk in engem Austausch. Es entstanden persönliche Verbindungen, die stets von gegenseitigem Respekt, Vertrauen und einem gemeinsamen Interesse an der Musik geprägt waren“, blickt die Familie heute zurück.
Eine Doppelspitze in der Gegenwart
Doch die Zeiten änderten sich, in der Weltpolitik ebenso wie in der Orgelbaufirma. 2004 verließen Matthias Schuke und sein Team Potsdam und bezogen größere Werkstatträume in Werder an der Havel. 2008 bauten sie auf der seit dem zweiten Weltkrieg verwaisten Empore des Magdeburger Doms eine neue Hauptorgel, ein weiterer Höhepunkt im Werkverzeichnis der Firma. 2014 führten die engen Beziehungen nach Osten zur zwischenzeitlichen Insolvenz der Firma. Westliche Sanktionen als Reaktion auf die Annexion der Krim ließen Auftraggeber in Russland und der Ukraine selbst zahlungsunfähig werden und zwei fertige Instrumente blieben in Werder liegen. Ein chinesischer Kunstliebhaber sprang ein, kaufte eine der Orgeln und das Insolvenzverfahren konnte eingestellt werden. Zwei Jahr später wurde das andere Instrument dann doch in die Philharmonie von Charkiw in die Ukraine geliefert, es war die vorerst letzte Schuke-Orgel in einem postsowjetischen Staat.
2018 trat erneut ein Zweigespann an die Spitze der Firma: Matthias Schuke verabschiedete sich in den Ruhestand, seine Söhne Michael und Johannes übernahmen. „Wir nehmen uns selbst nicht zu ernst. Und wir haben eine klare Aufgabenverteilung“, erklärt Johannes Schuke, wie die brüderliche Zusammenarbeit funktioniert. Er selbst ist Diplom-Wirtschaftsingenieur und für die bürokratische und wirtschaftliche Seite des Unternehmens verantwortlich. Sein Bruder Michael übernimmt als Orgelbaumeister die fachlichen Aufgaben.
Arbeit gibt es für die beiden Geschäftsführer und ihre rund 25 Mitarbeiter genug, denn ein Orgelneubau erfordert viele Schritte: Am Beginn stehen Vor-Ort-Besuche, auf die ein erster Computerentwurf folgt. Wenn dieser angenommen und der Vertrag unterzeichnet ist, beginnt das Sägen und Schleifen in der Firma. In der Holzwerkstatt werden neben den Holzpfeifen die technischen Vorrichtungen des Instruments und zumeist auch das Gehäuse gebaut und in der Zinnwerkstatt entstehen Metallpfeifen, ehe die Intonateure die Tonhöhe der Pfeifen grob einstellen. Anschließend wird die gesamte Orgel im Montagesaal der Firma komplett auf- und wieder abgebaut, verpackt und an den Ort ihrer Bestimmung geliefert. Dort arbeitet das Montageteam oft wochenlang, bis die Intonateure das fertige Instrument stimmen können. Es ist ein Prozess, der bis zu zwei Jahre dauern kann und im feierlichen Einweihungskonzert gipfelt. Orgelbau ist Teamwork, Teil der Mannschaft sind dabei auch zwei Orgelbau-Azubis. Michael Schuke kann die Motivation seiner jungen Kollegen nachvollziehen: „Orgelbau ist noch echtes Handwerk. Wir arbeiten mit verschiedenen und tollen Materialien, zum Beispiel mit richtigem Massivholz. Außerdem entsteht dabei ein Unikat – jede Orgel ist einmalig.“
Die Arbeit führt das Team in evangelische und katholische Kirchen. „Bei den Menschen erleben wir da keine großen Unterschiede. Die Gemeinden sind oft sehr freundlich und es wachsen langfristige Beziehungen“, sagt Matthias Schuke und erklärt: „Im katholischen Gottesdienst ist der Wechselgesang zwischen Kantor und Gemeinde wichtiger. Darauf müssen wir beim Instrument achten.“ Mit Blick auf ihre Projekte in Konzertsälen sind sich Vater und Söhne einig: „Irgendwie ist es schöner, in Kirchen zu arbeiten.“ Akustik und Atmosphäre der Sakralräume und der besondere Stellenwert der Orgel seien immer etwas Besonderes.
Innovation und Völkerverständigung in der Zukunft
Die Zusammenarbeit mit Kirchengemeinden zaubert den Orgelbauern ein Lächeln ins Gesicht, aber auch Sorgenfalten: „Der Mitgliederschwund der Kirchen und der Rückgang öffentlicher Fördermittel besorgen uns schon. Die Zahl der Orgelneubauten lässt etwas nach“, sagt Johannes Schuke und betont: „Wir sind aber immer wieder erstaunt, wie sich auch kleine Gemeinden und ihre Mitglieder für eine neue Orgel engagieren und dabei fast Unmögliches schaffen.“ Außerdem gehe im Gleichschritt mit der Nachfrage auch das Angebot zurück, Orgelbaufirmen müssten schließen, weil sie kein Personal für leitende Positionen mehr fänden. „Wir Orgelbauer sind Handwerker. Die wachsende Bürokratie macht den Job immer unattraktiver“, stellt Michael Schuke fest, dankbar für seinen Bruder, der den ihm lästigen Papierkram übernimmt. Die beiden möchten sich den Herausforderungen der Zukunft stellen und haben in den vergangenen Jahren vermehrt historische Instrumente restauriert und rekonstruiert, etwa in der Marienkirche in Mühlhausen. Dabei setzen sie auf innovative technische Möglichkeiten, die sie gemeinsam mit der Universität Potsdam erforschen.
Auch die Beziehungen nach Russland stellen die Brüder aktuell auf eine harte Probe: „Der Angriff auf die Ukraine hat uns sehr betroffen gemacht. Wir waren in beiden Ländern tätig, sodass wir die aktuelle Situation sehr aufmerksam und nachdenklich verfolgen.“ Sie sind solidarisch mit den Menschen in der Ukraine und betonen: „Wir würden uns sehr wünschen, eines Tages wieder an die Kontakte in beide Länder anknüpfen zu können. Aber dazu braucht es Frieden, Stabilität und gegenseitigen Respekt.“ Bis dahin wollen sie ihren internationalen Fokus ausweiten, besonders auf Nordeuropa und osteuropäische EU-Länder.
Denn Orgelbau über Grenzen hinweg hat Tradition in der Firma und motiviert Vater und Söhne auch für die Zukunft: „In den letzten Jahren haben wir in Mexiko, Taiwan und Finnland gearbeitet. Es ist ein schönes Gefühl, Orgeln so weit weg zu bauen, weil es zeigt: Die Menschen dort empfinden so, wie wir. Auch sie lassen sich von der Orgelmusik berühren. Wir haben mehr Gemeinsamkeiten als wir manchmal denken.“
Eine Orgelbaufamilie: Die Brüder Johannes (links) und Michael Schuke (Mitte) haben 2018 die Orgelbau-Firma von ihrem Vater Matthias (rechts) übernommen.
Orgelbaufirma Alexander Schuke
Foto: imago/blickwinkel
Täglich erreichen uns Nachrichten über Klimaveränderungen. Wir sind dazu aufgerufen, die Schöpfung zu bewahren – doch Klimaschutz kann sich manchmal wie ein Spagat anfühlen zwischen Verzicht und Alltag. Wie gelingt es gerade als Christ, so zu leben, dass wir achtsam mit der Schöpfung umgehen und trotzdem einem „normalen“ Alltag nachgehen können?
Annette Thaut, Ehrenamtlerin, Köthen:Singen wir im Gottesdienst das Lied „Ich glaube an den Vater“, stolpere ich immer wieder über den Ausdruck „die Krone seiner Schöpfung“. Das kann doch nicht sein, wenn wir sie zerstören. Sollten wir nicht besser über unseren Auftrag singen, die Schöpfung zu behüten? Das ist aber manchmal nicht so einfach. Ich pflege einen einfachen Lebensstil – weniger Konsum verbraucht weniger Rohstoffe und Energie. Das fällt mir leicht, da ich das durch ein schmales Haushaltsbudget schon immer so gewohnt bin. Die Doppelnutzung ist für mich ein guter Weg: ein gebrauchtes Handy, auch mal Kleidung aus zweiter Hand. Das Wasser, mit dem ich Gemüse wasche, landet anschließend in der Blumenerde und mit selbstgenähtem Brotbeutel kaufe ich am Backstand unser Brot. Außerdem versuche ich, lokal einzukaufen – trotzdem landet auch mal Obst aus dem Süden in meinem Korb, obwohl ich weiß, wie viel Wasser für den Anbau gebraucht wird. Den Alltag und meine ehrenamtliche Tätigkeit bewältige ich weitestgehend ohne Auto. Einmal im Jahr fahre ich dennoch damit in den Urlaub. So ist es einfacher, verschiedene Orte anzufahren und ich muss mit dem Gepäck nicht zirkulieren. Insgesamt gibt es so viele kleine Stellschrauben, an denen man im Alltag drehen kann. Ohne es verbissen zu sehen, gebe ich mir Mühe, den ökologischen Fußabdruck klein zu halten und zu fragen: Brauche ich das wirklich?
Christoph Biesenbach, Jugendbildungsreferent, Görlitz:Zunächst gefällt mir der Teil der Fragestellung in Bezug auf Achtsamkeit gegenüber der Schöpfung, aber das Leben eines „normalen“ Alltags. Ich versuche, nicht krampfhaft zu verzichten und daraus ein Riesenthema zu machen. Vielmehr versuche ich meinen Kindern, aber auch anderen Mitmenschen vorzuleben, dass sich so einiges auch ohne große Anstrengung umsetzen lässt. Mülltrennung zum Beispiel ist keine große Sache, aber so mancher scheitert schon daran, den Müll überhaupt in einen Mülleimer zu werfen, worüber sich auch meine Kinder wundern. Da ich ein sportbegeisterter Mensch bin, fällt es mir grundsätzlich auch nicht schwer, auf das Auto zu verzichten und zu Fuß zu gehen oder mit dem Fahrrad zu fahren. Allerdings gehört zur Wahrheit auch, dass ich kaum öffentliche Verkehrsmittel nutze, da ich in Bezug auf meine Kinder maximal flexibel sein möchte und bei einem Notfall-Anruf aus dem Kindergarten nicht erst auf Bus oder Bahn warten möchte. Zu Hause nutze ich viel lieber den Besen als den Staubsauger, lese Zeitung, statt im Internet zu lesen und Bücher statt ebooks – auch wenn offenbar (noch) nicht ganz sicher ist, ob Digital- oder Printmedien umweltschonender sind. Technische Geräte kaufen wir wirklich erst dann neu, wenn gar nichts mehr geht. Auch unsere Kinder erfahren, dass es nicht schlimm ist, wenn ein Spielzeug nicht mehr aussieht, wie am ersten Tag oder wenn etwas leicht beschädigt und vielleicht sogar nicht mehr 100% funktionstüchtig ist: Nicht alles muss sofort ersetzt und neu gekauft werden. Auch bei Kleidung tue ich mich sehr schwer, etwas wegzuwerfen. Auch hierbei gilt: Solange die Schuhe ihre Funktion noch erfüllen, kann ich sie noch anziehen. Meine Frau und ich sind froh darüber, dass unsere Kinder aber auch schon vieles aus Kindergarten, Schule und Kirche mitbekommen und somit nicht nur von uns für das Thema Nachhaltigkeit sensibilisiert werden. Da sagt dann unser, zu dem Zeitpunkt noch vierjähriger, Sohn, dass er nur noch ohne Verpackungen einkaufen möchte. Aber da stößt man dann schnell an seine Grenzen – nicht nur als Vierjähriger.
Cordula Traubel, Sozialarbeiterin, Heiligenstadt:Nach über 25 Jahren Stadtleben zog ich mit meiner Familie wieder aufs Land – zurück auf den Hof, der über Generationen die Lebensgrundlage meiner Eichsfelder Vorfahren war, auf dem in Großfamilie gelebt, geliebt, gearbeitet und gefeiert wurde. Pferde, Kühe und Schweine gibt es bei uns längst nicht mehr, aber immerhin haben wir zwei flauschige „Rasenmäher“ und eine Handvoll glückliche Hühner, die uns mit frischen Eiern versorgen. Viele Dinge waren für mich als Kind so selbstverständlich: die bunten Wiesen, der sichtbare Sternenhimmel, der Gesang der Vögel, das frische eigene Gartengemüse... Heute sehe ich alles mit viel offeneren Augen, höre bewusster hin, bin dankbar, in diesem Stückchen Paradies leben und es ein wenig mitgestalten zu dürfen, freue mich über unsere neu angepflanzte „Vogelhecke“. An eines kann ich mich aber einfach nicht gewöhnen: Hier auf dem Land geht fast nichts ohne Auto, besonders an den Wochenenden, denn dann fährt kein Bus. Das Fahrrad ist mitunter eine Alternative, doch bis zu meinem 20 Kilometer entfernten Arbeitsplatz ist es dann doch zu weit. Mit unseren Kindern sprechen wir über Klimaschutz (Bewahrung der Schöpfung), über Nachhaltigkeit, Müllvermeidung und fairen Handel. Wir versuchen bewusst, saisonale und regionale Produkte zu verwenden, lesen auf Etiketten, ob Palmöl enthalten ist und woher Kaffee und Schokolade kommen. „Weniger ist mehr!“ – dieser Satz geht mir dabei oft durch den Kopf. Wie viel brauche ich, um glücklich zu sein? Und ich trage stolz die Jeanshose, die meine Schwester mir letztes Jahr schenkte, weil sie zu gut für den Altkleidersack war.
Benedikt Bederna, Ingenieur, Dresden: Beruflich befasse ich mich mit der Energiewende. Das erschwert den Umgang mit der Schöpfung aber eher. Ingenieure orientieren sich an Zahlen und diese entlarven viele Bemühungen um einen umweltverträglicheren Lebensstil als wenig substanziell. Es ist eine Verlockung, daher einfach nichts mehr zu versuchen, zumal mir eine Handlungsmaxime, die ein allgemeines Gesetz werden kann, bekannt als kategorischer Imperativ, unmöglich ist. Wieweit soll ich mich aus der Gesellschaft zurückziehen, sodass meine Emissionen so gering sind, dass jeder Mensch es mir gleichtun könnte? Wohngebäude, Infrastruktur, et cetera – Ressourcen und Emissionen verstecken sich in allen Dingen unseres normalen Wohlstands. Für den Alltag hilft mir die Rede vom Maßhalten, denn sie kann eine individuell erfüllbare Richtschur sein. Für uns als Familie heißt das, ohne Not noch studentisch in einer WG ohne Auto zu leben, denn mehr Wohlstand bedeutet mehr Emissionen und daher gewöhnen wir uns besser nicht zu schnell daran.
Umweltschutz ins Leben integrieren
Klemens Schubert
Foto: Bernadette Olma
Curt Bernd Sucher (Mitte) hat der Caritas sein Elternhaus geschenkt.
Der Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Beth Shalom, Bernd Sucher, hat der Caritas Bitterfeld sein Haus geschenkt. Bei der Einweihung der neuen Regionalstelle erzählte er die bewegte Geschichte seiner jüdischen Familie.
„Und ist denn nicht das ganze Christentum aufs Judentum gebaut? Es hat mich oft geärgert, hat mich Tränen genug gekostet, wenn Christen gar so sehr vergessen konnten, dass unser Herr ja selbst ein Jude war.“ Dieses Zitat aus Gotthold Ephraim Lessings Drama „Nathan der Weise“ steht nicht etwa auf einem Mahnmal oder einer Erinnerungsstätte für die Opfer des Holocaust. Es steht auf einer Gedenktafel an der neuen Regionalstelle der Caritas in Bitterfeld. Diese wurde am 12. Juni feierlich eingeweiht.
Dass es dazu kommen konnte, verdankt die Caritas einem großzügigen Geschenk des Münchener Theaterkritikers Curt Bernd Sucher. Bei dem Geschenk handelt es sich nicht etwa um eine Geldspende, sondern vielmehr um sein eigenes Geburtshaus in der Bitterfelder Walther-Rathenau-Straße 8. Mit der Gedenktafel will Sucher auf die bewegte Geschichte des Gebäudes hinweisen. Einst gehörte es seinem Großvater, dem protestantischen Kirchenrat Oswald Sucher. Dessen Sohn Heinz heiratete nach dem Kriegsende die Leipziger Jüdin Margot Artmann. Sie war dem Konzentrationslager Majdanek entkommen und hat in Bitterfeld noch während der letzten Monate des Nazi-Regimes eine Zuflucht gefunden.
Die Ehe der beiden erfuhr jedoch auch nach dem Ende des NS-Staates keine große Zustimmung im Hause Sucher. Zu tief waren die antisemitischen Vorurteile verhaftet. Daher musste Margot Artmann schriftlich versprechen, dass sie die Kinder der Ehe protestantisch erziehen würde, ehe sie heiraten durfte. Curt Bernd Sucher wurde am 6. Juli 1949 in ebenjenem Haus geboren und dem Versprechen der Mutter entsprechend evangelisch getauft. 1954 zog die Familie nach Hamburg. An die Zeit der Kindheit in Bitterfeld hat Curt Bernd Sucher nur wenige wage Erinnerungen.
Davon und wie er das Haus nach der politischen Wende von 1989 zurückerwarb, berichtete Sucher am Tag vor der festlichen Einweihung bei einem Gesprächsabend in der Bitterfelder Kreisvolkshochschule. Dabei lernte er Zeitzeugen und die Nachmieter der elterlichen Wohnung kennen. Eine der wenigen Erinnerungen an Bitterfeld gab er sichtlich gerührt an die Gäste weiter: Eines seiner Lieblingsessen sei bis heute die Fettbemme. Diese gab es oft bei seiner Großmutter, wenn er mit anderen Kindern im Hof spielte.
Auch wenn die Mutter ihr Versprechen den Großeltern gegenüber einhielt und Sucher in Hamburg konfirmiert wurde, fand er letztlich doch zu ihrem Glauben und nahm ihn mehr und mehr als den eigenen an. Heute ist der Theaterkritiker Vorstandsvorsitzender der Liberalen Jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München. Als Angehöriger der Holocaust-Nachfolgegeneration sucht er die Begegnung vor allem mit jungen Menschen, geht in Schulen und will zum Gespräch anregen. Er will den jüdischen Glauben für Außenstehende entmystifizieren und Vorurteilen vor allem durch öffentliche Sichtbarkeit entgegentreten.
Foto: Klemens Schubert
Sichtbarkeit schafft Sucher auch mit der von ihm gestalteten Gedenktafel. Sie wurde bei der Einweihung der neuen Bitterfelder Caritas Regionalstelle enthüllt und der Öffentlichkeit übergeben. Nach dem Rückerhalt seines Geburtshauses war Sucher wichtig, dass die Immobilie nicht an einen Investor ginge, der damit lediglich Geld machen wolle. Da es in Bitterfeld keine große jüdische Gemeinde mehr gibt, die ein Mehrfamilienhaus brauchen könnte, kam der in München lebende Professor auf die Idee, das Gebäude der katholischen Kirche zu stiften.
Das Gelände der Bitterfelder Herz Jesu Gemeinde in der Röhrenstraße umfasst neben der Kirche und dem Pfarr- und Gemeindehaus auch ein Altenpflegeheim und die katholische Kita St. Josef. Es grenzt direkt an das Grundstück in der Walther-Rathenau-Straße an. Mit der Eröffnung der neuen Caritas Regionalstelle kommen zwölf altersgerechte Wohnungen, der Fachdienst Allgemeine Sozialberatung und eine Kleiderkammer zu diesem katholischen Campus hinzu und stärken fortan die soziale Infrastruktur der Stadt. Damit dies gelingen konnte, so Peter Zur, der Geschäftsführer des Caritas-Sozialverbundes, investierte die Caritas im Bistum Magdeburg 4,3 Millionen Euro in das Mehrfamilienhaus. Über eine Million Euro konnten von der Stadt Bitterfeld-Wolfen gefördert werden. Mehr als sechs Jahre dauerten die Planungs-, Bau- und Umbauarbeiten, ehe das Gebäude nun seiner neuen Bestimmung übergeben werden konnte.
Bischof Gerhard Feige würdigte die Schenkung Suchers bei dem Festakt als ein tiefsinniges und ausdrucksstarkes Zeichen jüdisch-christlicher Verbundenheit. Gemeinsam mit Sucher wünschte er, dass die Bitterfelder Walther-Rathenau-Straße 8 künftig ein Ort gelebter Nächstenliebe, der Begegnung und Erinnerung, sowie ein Angebot für eine gemeinsame Zukunft sein möge. Dafür wurde die neue Caritas-Regionalstelle schließlich von Ortspfarrer Andreas Ginzel und dem Vorstandsvorsitzenden der Caritas, Domkapitular Thomas Thorak, gesegnet und auch von einem Mitglied der Münchner Beth-Shalom Gemeinde mit dem Gebet „Schehechejanu“ (Der uns das Leben gegeben hat) unter den Segen Gottes gestellt.
Festakt mit Bischof Gerhard Feige in Bitterfeld
Birgit Pfeiffer
Foto: Uwe Winkler
Fotoshooting von Besuchern des Wave-Gotik-Treffens mit den Geistlichen: Links Dominikanerpater Simon Hacker und Jugendreferent Stefan Plattner, rechts die evangelischen und freikirchlichen Kollegen.
Am Pfingstsonntag spendete auch dieses Jahr ein ökumenisches Team Segen in der Leipziger Innenstadt – während des Wave-Gotik-Treffens, bei dem in der Stadt viele Menschen in schwarzen und auffälligen Gewändern unterwegs sind. Unsere Autorin Birgit Pfeiffer hat die Geistlichen begleitet.
Kaum sind die laminierten Schilder mit der Aufschrift „free blessings – sprich mich an!“ (kostenloser Segen) an den Talaren und der Mönchskutte angebracht, nähern sich Menschen neugierig, zeigen sich erfreut, und fotografieren die religiösen „Schwarzröcke“ – wie es beim Wave-Gotik-Treffen (WGT) üblich ist. Denn es geht dort auch um „Sehen und Gesehen-Werden“. Gleich an der Thomaskirche, dem Startpunkt der Aktion, kommt Nicole in schwarzer Kluft auf uns zu. Sie ist selbst evangelisch und Mitglied im Pfarrgemeinderat in Bad Belzig, freut sich sehr über die Aktion. Sie ist die Erste, die den Segen empfängt, von Vikarin Eva Hohmuth (ev.-luth.) und Lara-Christine Reichardt (ev. Freikirche Zeal). Nicols Partner ist selbst nicht christlich, hält sich eher im Hintergrund. Gleich im Anschluss nähern sich uns zwei Frauen vielleicht Mitte 50, die eher bunt gekleidet sind und dem Team großen Zuspruch spenden. „Wir dachten, wir können die WGT-Szene mal aufmischen“, erwidert Stefan Plattner fröhlich in langer Soutane. Er ist Jugendreferent und -seelsorger der katholischen Jugend in Leipzig. „Super!“, erwidern die beiden.
Dann bewegen wir uns in Richtung Innenstadt, teilen uns in Gruppen auf. Dominikaner Simon Hacker fällt besonders auf in seinem Habit. Wobei: Angesichts der karnevalsartigen Atmosphäre des WGT ist es wohl eher sein Schild, dass verdeutlicht, dass er tatsächlich „echt“ ist. Ein junger Mann kommt geradewegs auf ihn zu und lässt sich unverzüglich segnen. Der US-Amerikaner heißt Frank und ist selbst katholisch. Er sei freudig überrascht, dass so viel in Leipzig los sei, denn er kam einfach nur so als Tourist in die Messestadt, wie er berichtet. Nur wenige Meter weiter trifft Pater Simon auf einen befreundeten evangelischen Theologen, Christian. Sie spenden sich gegenseitig den Segen – im vollen Getümmel vor der Banksy-Ausstellung auf der Grimmaischen Straße.
Auch einige Besucher des Stadtfests, die keinen christlichen Hintergrund haben, nehmen spontan das Angebot in Anspruch, fragen, „wozu das denn gut ist“ – und gehen dann wieder oder „probieren es mal aus“. Wer jedoch denkt, dass eine solche Segnungsaktion nur flüchtige Begegnungen zuließe, täuscht sich: „Die persönlichen, tieferen Gespräche, die sich öfter ergeben, sind für mich sehr kostbar“, sagt Pfarrer Johannes Bartels vom Landesjugendpfarramt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Sachsen. So gesellen sich Ralf und Bianca, ein Grufti-Paar aus der Nähe von Nürnberg, beim Mittagessen ganz selbstverständlich zu uns und lassen uns Anteil haben an ihren teils schweren Lebenserfahrungen, möchten wissen, wie Männer dazu kommen, Priester zu werden. Bianca ist Lektorin in ihrer Kirchengemeinde. Gegen Ende der Aktion, am Wilhelm-Leuschner-Platz, wo nun Eva, Lara und Simon stehen, kommt eine Frau auf uns zu und sagt zu Pater Simon: „Sie sind Dominikaner, richtig?“ Wir sind gespannt. „Sie kennen sich aus!“, sagt der Ordensmann. Ob sie selbst christlich sei? „Nein, aber ich lese historische Romane.“ Einen Segen möchte sie nicht.
Kirche auf dem Wave-Gotik-Treffen in Leipzig