Bischof Gerhard Feige zum Jubiläum der Kathedrale
Diese oder jene Kirche – so ist in manchen Stadt- und Kulturführern vor allem im Osten Deutschlands zu lesen – „ist ein wunderschönes Zeugnis der Vergangenheit“. Immerhin – so ließe sich kritisch anmerken – wird da von „wunderschön“ gesprochen, ansonsten aber nur von der „Vergangenheit“. Kirchen scheinen Erinnerungsstücke an gestern zu sein und dort ihre Bedeutung gehabt zu haben, Ausdruck einer verflossenen Zeit und Geisteshaltung, inzwischen aber – provokativ gesagt – für viele eher „kostbare Gräber oder Grüfte eines toten Gottes“.
Solche Tendenzen verspürt man gelegentlich ebenso, wenn „das jüdisch-christliche Erbe Europas“ heraufbeschworen wird und davon die Rede ist, worin man das alles erkennen könne: nicht nur in Architektur und bildender Kunst, sondern auch in Musik, Sprache und Literatur oder in Wertvorstellungen und Lebensweisen. Immer wieder ist von Prägungen und Traditionen zu hören, die für unsere Kultur bedeutsam seien und die es zu bewahren gelte. Neuerdings meinen einige sogar, ein irgendwie diffuses Abendland gegen eine befürchtete Islamisierung verteidigen zu müssen.
Ohne Zweifel gilt, was der Philosoph Odo Marquardt so formuliert: „Zukunft braucht Herkunft.“ Wir müssen wissen, wo wir herkommen und wo unsere Wurzeln sind. Die Erinnerung gehört zu unserer Existenz und stiftet Identität. Wir leben aus und mit unserer Geschichte. Konkret heißt das für uns auch, sich der religiösen Grundlagen und wechselvollen Kirchengeschichte unserer mitteldeutschen Region bewusst zu bleiben oder neu zu werden. St. Sebastian bietet sich da als ein anschauliches und anregendes Beispiel an.
Und doch ist das nur die eine Seite der Medaille. Unsere heutige Kathedrale hat nicht nur eine Vergangenheit, sie hat auch eine Gegenwart und Zukunft und steht als Zeugin dafür, dass christlicher Glaube lebt und gelebt wird, hier und jetzt, 25 Jahre nach der friedlichen Revolution und politischen Wende, inmitten einer anscheinend zunehmenden Gleichgültigkeit und weithin konfessions- und religionslosen Gesellschaft.
Im Russischen gibt es die schöne Formulierung: „Черковь работает“, ins Deutsche übersetzt: „die Kirche arbeitet“. Das bezieht sich nicht auf Baumaßnahmen, auch nicht auf Prozesse der Umstrukturierung oder irgendwelche „Gschaftlhuberei“. Das bedeutet vielmehr: Hier wird gebetet und Gottesdienst gefeiert, hier kann man durch die Verkündigung des Evangeliums und durch die Sakramente gestärkt werden, hier pulsiert das Leben, hier geht es um Freud und Leid, Jung und Alt, Geburt und Tod, Bekenntnis und Zweifel, Schuld und Vergebung. Und das merkt man einer Kirche auch an. Hier modert nicht etwas vor sich hin, hier wird tief aus- und eingeatmet.
Darüber hinaus steht St. Sebastian für einen ökumenischen Geist. So war – um nur zwei Beispiele zu nennen – die evangelische Domgemeinde vor einigen Jahren für mehrere Monate mit ihrem Sonntagsgottesdienst fast selbstverständlich bei uns zu Gast, und vor kurzem erst hat die russische orthodoxe Gemeinde hier ihre Osternacht feiern können.
In jüngster Zeit schließlich zeigt sich zudem, dass unsere Kathedrale immer mehr ein Ort wird, an dem Menschen aus unterschiedlichen Völkern und Nationen Gottes Nähe und unsere Gemeinschaft suchen. Der Statistik nach sollen inzwischen sogar katholische Christen aus 63 Ländern auf dem Territorium unserer Kathedralpfarrei wohnen. Möge es uns gelingen, geistvoll und tatkräftig auf diese neue Herausforderung einzugehen und vielen erfahrbar werden zu lassen, dass sie hier willkommen und wir gemeinsam Kirche sind.
Und noch etwas halte ich für bedeutsam. In seinem Bestseller „Nachtzug nach Lissabon“ schreibt der Schweizer Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri unter dem Pseudonym „Pascal Mercier“ eindrucksvoll: „Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen und mich blenden lassen von den unirdischen Farben. Ich brauche ihren Glanz … ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen …“ Ist es nicht genau das, was Menschen auch heute noch fasziniert, wenn sie eine ausdrucksstarke Kirche betreten. Der Anziehungskraft von Raum, Licht und Formen kann kaum jemand widerstehen. Der Blick wird unwillkürlich nach oben gezogen, der Horizont geweitet. Hier bricht – wie es Fulbert Steffensky einmal formuliert hat — „die große Fremdsprache im Meer der Geläufigkeiten ein.“ Es ist eine Fremdsprache, die – so meine ich – vielen gut tun kann. Mit anderen Worten gesagt: „So wichtig Museen sind, Kirchen … sind in spezifischer Weise Regenerationsorte für die Seele der Menschen, Asylorte für Gefühle und Ängste, Animationsorte für Lebensmut und Lebensgestaltung, Segensräume für inneren Frieden“ (W. Grünberg).
Möge die Kathedrale St. Sebastian nicht nur „ein wunderschönes Zeugnis der Vergangenheit“ sein, sondern zugleich auch ein inspirierender und segensreicher Ort bleiben. Mögen viele darin hoffnungsvolle Erfahrungen machen. Und möge – wie es ein Journalist dieser Tage ausgedrückt hat – „Mit 1000 Jahren noch lange nicht Schluss“ sein.