Weihnachtswort von Bischof Dr. Gerhard Feige
Oft geht es in unserer Welt recht gnaden- und heillos zu. Eigenartigerweise verdichtet sich dieser Eindruck manchmal gerade in der Advents- und Weihnachtszeit. In diesem Jahr bewegt mich das sogar noch mehr als jemals zuvor.
Kriege erschüttern viele Regionen der Erde, nicht nur Syrien und den Nahen Osten. Machtkämpfe rivalisierender Gruppen eskalieren. Naturkatastrophen, Hungersnöte, Krankheitsepidemien und bittere Armut verschlimmern die Situation noch zusätzlich. Unzählige Menschen sind weltweit auf der Flucht. Fast täglich hört man von Terroranschlägen und anderen Gewalttaten. Auch Deutschland ist davon herausgefordert. Manches davon erscheint „wie eine vielköpfige Hydra: schlägt man ihr einen Kopf ab, wachsen mehrere nach“ (N. Schneider). Außerdem erhöht sich in unserer Gesellschaft der Druck immer mehr. Zum einen ist Leistung gefragt, Jugendlichkeit, Schönheit, Perfektion und Flexibilität. Wer da nicht mithalten kann, bleibt gnadenlos auf der Strecke. Zum anderen gehen immer wieder menschliche Beziehungen in die Brüche, bleiben unschuldige Opfer zurück, ist das Miteinander vergiftet. Und schließlich hat die Zuwanderung so vieler Asylsuchender uns vor große Probleme gestellt. Schnell sind da angesichts notwendiger Veränderungsprozesse Sündenböcke gefunden, nehmen Vorurteile und Unterstellungen anderen die Luft zum Atmen. Auf einmal zeigen sich wieder fremdenfeindliche und rassistische Tendenzen, machen aggressive Wut- und Hassmails die Runde, tuen sich menschliche Abgründe auf, die man im Europa des 21. Jahrhunderts so nicht mehr erwartet hätte.
Inmitten all dessen ist am Weihnachtsfest aus dem Titusbrief (2,11) zu hören: „Die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten.“ Gott – so wird uns verkündet – ist als kleines, ohnmächtiges, verletzliches Kind in diese Welt gekommen: nicht in einer alles umstürzenden Revolution; nicht mit „Pauken und Trompeten“; nicht mit einem Sozialprogramm, mit dem ein für alle Mal Hunger, Armut und Ungerechtigkeit beseitigt werden könnten. Er lässt sich auf alle unsere Bedingungen ein und teilt unser Menschsein von der Wiege bis zur Bahre, unsere Freuden und Schmerzen, Geburt und Tod, ja sogar die Gnadenlosigkeit einer gewaltsamen und ungerechten Hinrichtung. So ist er mit uns solidarisch bis ins Innerste und bis zum Äußersten. Das bedeutet auch: Mit der Menschwerdung Gottes hat etwas begonnen, was sich weiter entwickelt und einst vollenden wird. Doch schon jetzt sind wir nicht mehr die Verdammten dieser Erde, absolut einsam und verloren oder nur einander ausgeliefert. Gott selbst ist uns nahe, unverdient und nicht berechnend, einfach aus Wohlwollen und Liebe, zärtlich und ernsthaft zugleich. Und das nimmt von uns den Druck, selbst wie Gott sein und sich ständig übermenschlich beweisen zu müssen. Stattdessen dürfen wir darauf vertrauen, von Gott getragen und immer wieder beschenkt zu werden.
„Begnadigt“ zu sein, bewegt aber auch dazu, den anderen gnädig zu begegnen und an der Gestaltung menschenfreundlicherer Beziehungen mitzuwirken. Wie sehr können doch Barmherzigkeit und Liebe unsere Welt verändern. Gesellschaftspolitisch heißt das: alle Menschen in ihrer Würde als Ebenbild Gottes und in ihrer Eigenverantwortung zu bestärken, aber auch das Ganze des Gemeinwohls im Blick zu behalten, solidarisch einander zu Hilfe zu kommen und füreinander ein zu stehen. Immer dann, wenn wir wach und sensibel sind für das, was gebraucht wird, wenn wir uns das Schicksal anderer zu Herzen gehen lassen und mutig darauf reagieren, werden wir zu einer „Übergangsstelle der Gnade“, geben wir etwas von dem weiter, was Gott an Weihnachten in diese Welt hinein gesetzt hat.
In diesem Sinn wünsche ich allen trotz oder gerade angesichts mancher bedrückender und leidvoller Erfahrungen ein gnadenreiches Weihnachtsfest sowie im Umgang miteinander viel Fantasie, Tatkraft und Herzlichkeit.