Neue Mauern verhindern!
Bischof Gerhard Feige zum Fest der Deutschen Einheit
Zu einem besseren Miteinander in Gesellschaft und Glauben hat Magdeburgs Bischof Gerhard Feige ermuntert. In seiner Predigt zum Fest der Deutschen Einheit erinnerte er unter anderem: "Verschiedenheit in Einheit zu leben, bedeutet ja keineswegs, die eigene Prägung und Kultur aufzugeben. Es bedeutet aber, über unseren Tellerrand zu schauen und den Reichtum der anderen zu entdecken." Im Folgenden dokumentieren wir die Ansprache.
„Er“ – Jesus Christus – „vereinigte die beiden Teile und riss … die trennende Wand … nieder.“ Wie sehr klingt in diesem Satz aus dem Epheserbrief doch an, was vor 26 Jahren am 3. Oktober besiegelt wurde. Ich weiß noch gut, wie bewegend es für mich nach dem Mauerfall war, auf einmal frei wählen zu können. Für uns Ostdeutsche eröffneten sich plötzlich ganz neue Horizonte: wir konnten reisen, wohin wir wollten, ungehindert sagen, was wir dachten, unseren Glauben öffentlich leben und die gesellschaftlichen Verhältnisse mit gestalten. Lange ersehnt und doch plötzlich und unerwartet erfuhren wir auf einmal Freiheit als ein kostbares Geschenk. Seitdem hat sich viel verändert, ist immer mehr zusammengewachsen, was willkürlich getrennt war, leben wir fast selbstverständlich in einem gemeinsamen demokratischen Rechtsstaat mit vielen Errungenschaften, von denen andere auf der Welt nur träumen können.
„Er“ – Jesus Christus – „vereinigte die beiden Teile und riss … die trennende Wand … nieder.“ 26 Jahre später ist trotzdem noch nicht alles bestens, herrscht manche soziale und ökonomische Ungleichheit, sind viele davon überzeugt, dass es auch nach wie vor große Mentalitätsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen gibt. Und die errungene Freiheit erscheint manchen „grauer als der Traum von ihr“. Zweifellos gibt es zahllose Gewinner; doch andere empfinden sich eher als Verlierer. Und viele fühlen sich überfordert oder neuen Zwängen ausgesetzt. Wie schnell kommt dann Unmut auf, werden Sündenböcke gesucht, ist man dabei, sich ein- und abzugrenzen, innerlich und äußerlich. Das richtet sich seit einiger Zeit vor allem gegen jene, die aus Kriegsgebieten und anderen katastrophalen Verhältnissen zu uns kommen und Zuflucht suchen. Hier sind wir als Christen besonders herausgefordert, solchen Tendenzen zu widerstehen. Stattdessen sollten wir mit allen Mitbürgerinnen und -bürgern guten Willens nach menschenwürdigen Lösungen suchen und – wie Papst Franziskus es ausdrückt – „Nächste der Geringsten und Verlassenen … sein“.
Haben wir Christen nicht auch genügend Erfahrungen, wie es gelingen kann, Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur friedlich miteinander in Beziehung zu bringen? Ist nicht die Kirche Jesu Christi von Anfang an vielfältig angelegt und universal ausgerichtet? Zugleich gilt sie als Zeichen und Werkzeug der Einheit. Aus allen Völkern sind wir zu dem einen Volk Gottes herausgerufen, und Jesus Christus ist der Schlussstein, durch den „der ganze Bau zusammengehalten (wird)“ und wachsen kann. Diese beiden Pole – Einheit und Verschiedenheit – sind uns als Christen somit in die Wiege gelegt worden. Damit haben wir den Auftrag, uns auf beides miteinander einzulassen. Das betrifft auch unsere ökumenischen Beziehungen und könnte zugleich ein Vorbild für das Zusammenleben in unserem Land sein, vor allem auch im Hinblick auf die Integration unserer ausländischen Mitmenschen.
Verschiedenheit in Einheit zu leben, bedeutet ja keineswegs, die eigene Prägung und Kultur aufzugeben. Es bedeutet aber, über unseren Tellerrand zu schauen und den Reichtum der anderen zu entdecken. Schon immer sind es auch die Fremden gewesen, die eine Gesellschaft daran hindern zu erstarren. Und letztendlich ist „Die Menschheit … durch Migration zu dem geworden, was sie heute ist“ (H. Münkler). Angesichts unserer demographischen Entwicklungen können Zuwanderer sogar ein großer Segen sein. Machen nicht viele von uns schon jetzt die Erfahrung, durch die Begegnung mit Menschen aus anderen Ländern beschenkt und heilsam verändert zu werden?!
„Er“ – Jesus Christus – „vereinigte die beiden Teile und riss … die trennende Wand … nieder.“ Lassen wir deshalb nicht zu, dass neue Mauern errichtet werden, weder zwischen West und Ost noch zwischen uns und denen, die zu uns flüchten. Die überwältigende Hilfsbereitschaft der letzten Jahre zeigt, dass es in Deutschland tatsächlich eine tief verwurzelte Kultur der Mitmenschlichkeit und Barmherzigkeit gibt. Entgegen allen dumpfen Parolen und gewalttätigen Übergriffen brauchen wir auch weiterhin viel Fantasie und Mut, bessere gesetzliche Rahmenbedingungen und eine solidarische Zivilgesellschaft. Unsere Vorfahren haben es nach 1945 geschafft; auch nach 1989 ist es möglich geworden. Warum sollte es uns nicht auch jetzt in Deutschland und in Europa gelingen, die Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen?