Wir haben ihn schon
Brief des Bischofs zur Österlichen Bußzeit
Liebe Schwestern und Brüder,
schon seit langem ist Martin Luther anlässlich des 500. Gedenkjahres der Reformation in fast aller Munde. Da kann man durchaus verstehen, wenn manche schon stöhnen. Und jetzt wird er selbst hier noch erwähnt. Warum das? Nun, als „Zeuge des Evangeliums, Lehrer im Glauben und Rufer zur geistlichen Erneuerung“[1] kann er – so die im ökumenischen Dialog gewachsene Einsicht – auch uns katholische Christen zutiefst und heilsam herausfordern.
„Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ das war die quälende Frage, die ihn und viele seiner Zeitgenossen damals umtrieb. Ängstlich wurde überlegt: Was kann und muss ich tun, um trotz allen Versagens beim Jüngsten Gericht nicht streng bestraft zu werden, sondern Gottes Wohlgefallen zu finden? Erlösung und Heil schienen fast unerreichbar zu sein.
„Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ So fragt heute wohl kaum noch jemand. Glaubensvorstellungen und Lebensgefühl haben sich seitdem beträchtlich verändert. Zahllose Zeitgenossen – von menschlicher Unabhängigkeit und Freiheit überzeugt – meinen inzwischen, sich vor keinem Gott mehr verantworten zu müssen und auch nicht erlösungsbedürftig zu sein. Sogar Christen wissen manchmal nicht mehr so recht, woran und warum sie überhaupt glauben. Statt auf Gott setzt man eher auf sich selbst oder eine Verbesserung der irdischen Bedingungen.
Und doch sind auch heute Menschen nicht ohne Angst. Immer wieder werden wir mit Ansprüchen konfrontiert, die unerträglichen Druck erzeugen, im persönlichen wie im gesellschaftlichen Miteinander. Trotz aller Anstrengungen bleibt am Ende oftmals das Gefühl, den Erwartungen nicht gerecht geworden zu sein und versagt zu haben. Andere leiden darunter, zu wenige Chancen zu haben und von vielem ausgeschlossen zu sein. Und wer in irgendeiner Weise schuldig geworden ist, wird sich unweigerlich auch seine Sorgen machen.
Grundsätzlich geht es also noch immer – nur jetzt anders formuliert – um die Frage: Wie komme ich aus meinen Nöten heraus? Wovon hängt das ab? Wer kann dabei befreien, entlasten und Mut machen? Angeregt durch Luther und andere Reformatoren können auch wir katholische Christen inzwischen gemeinsam mit den evangelischen Glaubensgeschwistern darauf antworten: Nicht wir selbst sind es, die dazu in der Lage wären. Alles, was wir brauchen, hat Gott uns schon bedingungslos in Christus geschenkt. Damit gilt auch: „Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht aufgrund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und befähigt und aufruft zu guten Werken.“[2] Gott ist es, der uns Würde verleiht, wo andere sie missachten, der neue Horizonte eröffnet, wo alles ausweglos erscheint, der zum Handeln beflügelt, wo sonst Lähmung herrscht. Das bedeutet zugleich, dass sich niemand die Gnade verdienen muss oder kann, weder durch ethische Leistungen noch durch äußerliche Frömmigkeitsformen. Entscheidend ist vielmehr, Gottes Barmherzigkeit zu vertrauen und an ihn zu glauben.
Wenn aber der Glaube allein reicht – liebe Schwestern und Brüder – und man keine Leistungen vorzuweisen braucht, um erlöst zu werden, ist das dann nicht ein „billiges Christentum zu herabgesetzten Preisen“[3]? Einer solchen Deutungsmöglichkeit steht jedoch gleich die erste von Luthers 95 Ablassthesen entgegen. Ausdrucksstark heißt es da: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht ’Tut Buße’ … (Mt 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll“.
Lebenslang Buße tun? Macht das nicht schwermütig und lebensuntüchtig? Büßen muss man doch sonst nur, wenn man eine Straftat begangen oder sich anderweitig ins Unrecht gesetzt hat. Und außerdem: Braucht Gott unsere Buße, um sich etwa in seiner Haltung gegenüber uns „umstimmen“ zu lassen? Oder meint Buße vielleicht – existentieller gedacht – die bewusste Abkehr von allem, was Gottes guter Schöpfung schadet, und die gläubige Ausrichtung auf die Fülle des Lebens, die in Jesus Christus offenbar geworden ist? Nach Luther hieße das, „täglich in seine Taufe [zu] schlüpfen“[4], damit der alte Adam „mit allen Sünden und bösen Lüsten“ „ersäuft“ werde und sterbe, ein neuer Mensch aber herauskomme und auferstehe, der gottgefällig lebe.[5]
Statt „Tut Buße“ kann man auch sagen „Kehrt um“. Beides gibt das „Metanoeite“ im griechischen Urtext wieder. Mit diesem Ruf beginnt Jesus seinen öffentlichen Auftritt und fügt hinzu: „denn das Himmelreich ist nahe“. Noch anders übersetzt, könnte es auch heißen: „Ändert euer Denken und eure Vorstellungen“, bleibt nicht im Gewohnten stecken, orientiert euch neu, lasst euch auf Größeres ein! Denn Gott ist ganz und gar auf eurer Seite.
Die Umkehr, zu der Jesus aufruft, ist damit nicht als Aufforderung zu strengen Bußübungen zu verstehen. Auch keine Strafe, die man abbezahlen müsste, ist dabei im Blick. Die Umkehr, die Jesus meint, scheint vielmehr darin zu bestehen, sich fortan ganz Gott zuzuwenden, der größer, liebevoller und barmherziger ist, als wir es uns vorstellen können. Sich radikal auf ihn zu besinnen und zu verlassen – so will Jesus uns nahebringen – ändert unsere Sicht auf das Leben, auf uns selbst und auf alle unsere Beziehungen. Das hat auch Konsequenzen für unser Verständnis von Kirche.
Was aber – liebe Schwestern und Brüder – wäre dann anders? Manche glauben, vollkommen ihres eigenen Glückes Schmied zu sein oder sich wie Baron Münchhausen selbst am Schopf aus dem Sumpf ziehen zu können. Man müsse sich nur intensiv darum bemühen. Nicht selten führt das letztlich zu einer heillosen Überforderung. Es kann uns auch zu gnadenlosen Konkurrenten um „das beste Stück Kuchen“ werden lassen. Und wenn man sein irdisches Leben dann noch für „die letzte Gelegenheit“[6] hält, läuft einem die Zeit immer davon, löst das ständig die Angst aus, das Wichtigste zu verpassen.
Auf diesem Hintergrund könnte die Aufforderung zur Umkehr oder Buße bedeuten: Löst euch von der zwanghaften Vorstellung, erfolgreich sein zu müssen. Macht euer Selbstwertgefühl nicht davon abhängig, wie andere euch sehen oder wie viele „Likes“ ihr auf Facebook bekommt. Das, wonach ihr euch eigentlich sehnt – anerkannt und geliebt oder glücklich zu sein – könnt ihr euch ohnehin nicht selbst verschaffen. Ihr bekommt es gratis, und zwar von einem liebenden Gott, der auch dann zu euch steht, wenn etwas nicht gelingt, wenn ihr in Krankheit und Alter nichts mehr von dem zustande bringt, was in den Augen der Gesellschaft wichtig ist. Anstatt krampfhaft um sich selbst zu kreisen, sollte es vielmehr immer neu darum gehen, den Lebensschwerpunkt auf Gott hin zu verlagern. Und „weil wir uns von Gott angenommen wissen, haben wir [dann auch] die Freiheit, Verantwortung zu übernehmen und uns für unsere Mitmenschen und unsere Mit-Welt zu engagieren“.[7]
Eine solche Haltung könnte uns auch angesichts der gegenwärtigen Situation unserer Kirche gut tun. Da gibt es nämlich – wie Papst Franziskus formuliert – manche Christen, „deren Lebensart wie eine Fastenzeit ohne Ostern erscheint“, „unzufriedene und ernüchterte Pessimisten mit düsterem Gesicht“.[8] Auch hier umzukehren und sich neu auszurichten, wäre dringend notwendig und würde dem entsprechen, was damit gemeint ist, ein Leben lang Buße zu tun. Nicht wir machen oder retten letztlich Kirche – und müssen es auch nicht. Gott ist es, der sie ins Leben gerufen hat, verantwortet und in die Zukunft führt. Ihm gilt es von ganzem Herzen zu vertrauen. Dann werden wir auch die nötige Gelassenheit erfahren, nicht in jedem Ab- oder Umbruch gleich eine Katastrophe oder sogar den Untergang zu sehen. Bei allen unseren Bemühungen, Kirche lebendig zu gestalten, werden uns nur dann nicht der Atem und die Freude ausgehen, wenn wir tatsächlich auch glauben, dass Gott uns gnädig ist und bedingungslos liebt. Wir brauchen ihn nicht zu „kriegen“, wir haben ihn schon.
Liebe Schwestern und Brüder, dass der Glaube daran nicht verkümmere, sondern sich entfalte und Sie mit Hoffnung und Zuversicht erfülle, dazu erbitte ich Ihnen in herzlicher Verbundenheit den Segen des allmächtigen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Magdeburg, am 1. Sonntag der österlichen Bußzeit 2017
Ihr Bischof + Gerhard Feige
[1] Martin Luther – Zeuge Jesu Christi. Wort der Gemeinsamen Römisch-katholischen/Evangelisch-lutherischen Kommission anläßlich des 500. Geburtstages Martin Luthers, 1983, in: Dokumente wachsender Übereinstimmung II: 1982-1990, Paderborn- Frankfurt Main 1992, 445.
[2] Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche, in: Dokumente wachsender Übereinstimmung III: 1990-2001, Paderborn-Frankfurt/Main 2003, 423.
[3] Walter Kasper, Martin Luther. Eine ökumenische Perspektive, Ostfildern 2016, 24.
[4] WA 15,481ff.
[5] WA 30/1,312.
[6] Marianne Gronemeyer, Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit, Darmstadt ²1996.
[7] U. Swarat/ J. Oeldemann/D. Heller (Hg.), Von Gott angenommen – in Christus verwandelt. Die Rechtfertigungslehre im multilateralen ökumenischen Dialog (Beiheft zur Ökumenischen Rundschau Nr. 78), Frankfurt a.M. 2006, 54.
[8] Evangelii Gaudium Nr. 6 und 85.