Übergänge gestalten
Brief des Bischofs von Magdeburg zur österlichen Bußzeit 2019
Zur österlichen Bußzeit 2019 schreibt der Magdeburger Bischof Dr. Gerhard Feige:
„Zumutungen“
1. Bistumsgründung
Liebe Schwestern und Brüder, fast 200 Jahre hatten wir zum heutigen Erzbistum Paderborn gehört, als nach der Wiedervereinigung Deutschlands die Frage aufkam, wie es mit dem zuletzt so genannten Bischöflichen Amt Magdeburg weitergehen soll. Bischof Leo Nowak, der 1990 zum Bischof ernannt worden war, führte dazu eine umfangreiche Befragung durch. Dabei plädierte eine deutliche Mehrheit dafür, dass unsere vorläufige Selbständigkeit aus DDR-Zeiten nunmehr auch ausdrücklich bestätigt werden sollte. In diesem Sinne entschied man auch in Rom; und so wurde am 8. Juli 1994 ein neues Bistum Magdeburg errichtet und mit den Bistümern Erfurt und Fulda dem Erzbistum Paderborn als Suffragan zugeordnet. Die festliche Gründungsfeier fand am 9. Oktober 1994 auf dem Magdeburger Domplatz statt. In ihr wurde auch Bischof Leo Nowak in sein neues Amt eingeführt.
Wie kam man damals zu einer solchen Entscheidung? Angesichts unserer kleinen Verhältnisse erforderte das ja durchaus einiges an Mut und Gottvertrauen.
Schaut man sich weltweit um, zeigt sich, dass es für ein Bistum gar nicht so sehr darauf ankommt, ob es klein oder groß ist, traditionsreich oder blutjung, bevölkerungsdicht oder dünn besiedelt, finanzstark oder unterstützungsbedürftig. Eine äußerlich erkennbare Norm scheint es nicht zu geben. Und doch dürfte klar sein: Entscheidend ist nicht das Territorium oder die Vermögensmasse, sondern das lebendige Gottesvolk, das hier in Erscheinung tritt. Bistümer entstehen oftmals dann, wenn das Evangelium Jesu Christi in einer Region tatsächlich angekommen und geerdet ist, wenn eine Ortskirche eigener Prägung meint, genügend Reife erlangt zu haben, um ihren Weg eigenständig weiterzugehen, und auch den Mut besitzt, dies zu riskieren.
Ein solcher Abnabelungsprozess ist nicht immer schmerzfrei. Das wissen wir aus eigener Erfahrung. Aber unsere Bistumsgründung vor 25 Jahren war keine selbstsüchtige und undankbare Entscheidung gegen Paderborn, sondern entsprang unserer Verantwortung gegenüber der Situation vor Ort und dem Sendungsbewusstsein, das Evangelium Jesu Christi in katholischer Auslegung auf mitteldeutsch zu buchstabieren und zu leben.
2. Herausforderungen
Das – liebe Schwestern und Brüder – hieß aber auch, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Was hatte sich nach 1990 doch alles verändert! Kirche war wieder zu einer öffentlich bedeutsamen Größe geworden. Viele Christen übernahmen politische und gesellschaftliche Ämter und gestalteten den Demokratisierungsprozess mit. Katholische Schulen wurden gegründet und zahlreiche karitativ-soziale Einrichtungen auf- oder weiter ausgebaut. 2001 kam es dann bistumsweit zu einem „Pastoralen Zukunftsgespräch“ über unsere besondere Berufung und Sendung. Dabei wurde ein Leitbild entwickelt, dessen Botschaft lautet: „Wir wollen eine Kirche sein, die sich nicht selbst genügt, sondern die allen Menschen Anteil an der Hoffnung gibt, die uns in Jesus Christus geschenkt ist. (…) Deshalb nehmen wir die Herausforderung an, in unserer Diasporasituation eine missionarische Kirche zu sein. Einladend, offen und dialogbereit gehen wir in die Zukunft.“
Davon sind viele in unserem Bistum auch weiterhin überzeugt. Die Bedingungen jedoch haben sich dafür verschärft. So hat die Kirche inzwischen in unserer Gesellschaft an Bedeutung wieder verloren und seit dem Missbrauchsskandal auch enorm an Vertrauen eingebüßt. Zudem sind wir aufgrund demografischer und anderer Entwicklungen wesentlich weniger und im Durchschnitt auch älter geworden. 81.000 Katholiken leben ziemlich zerstreut und oft in verhältnismäßig kleinen Gemeinden. Über 80% der Bevölkerung ist konfessionslos. Das geht nicht spurlos an uns vorüber und beeinflusst auch unsere christliche Lebenspraxis. Eltern fällt es zunehmend schwerer, ihren Kindern und Jugendlichen den Glauben zu erschließen. Andererseits aber finden manche nichtchristlichen Erwachsenen bei uns neue Perspektiven für ihr Leben und lassen sich sogar taufen. Zugleich nimmt die Zahl unserer Priester ab, so dass wir seit 2014 nicht mehr in der Lage sind, alle unsere 44 Pfarreien mit einem eigenen Pfarrer zu besetzen. Und schließlich ist unser wirtschaftliches Vermögen im Vergleich zu den meisten anderen deutschen Bistümern äußerst gering. Insgesamt müssen wir also schon jetzt mit Bedingungen zurechtkommen, die anderswo vielleicht noch in der Zukunft liegen.
Wie gehen wir mit dieser Situation um? Bei meinem Amtsantritt im Jahr 2005 habe ich eine Grundstimmung wahrgenommen, die sehr vom Gedanken an einen Aufbruch bestimmt war. Es galt aber auch schon: „Wer Untergänge vermeiden will, muss Übergänge gestalten“. Inzwischen haben die rasanten Entwicklungen indes manchen Schwung der Anfangsphase gedämpft. Viele unter uns scheinen erst dann bereit zu sein, sich auf jetzt schon absehbare Veränderungen einzustellen, wenn es gar nicht mehr anders geht.
3. Unsere Sendung
Zweifellos – liebe Schwestern und Brüder – sind die Verhältnisse, mit denen wir zu tun haben, dramatisch. Da gibt es nichts zu beschönigen. Allen Beteiligten wird einiges abverlangt. Da – glaube ich – kommt es ganz entscheidend darauf an, welche Grundhaltung uns prägt. Wenn jemand der Meinung ist, dass „alles sowieso den Bach runter geht“, bleibt eigentlich nur noch eine Art „Sterbebegleitung“ übrig: alles so weiterlaufen zu lassen, „bis der letzte dann das Licht ausmacht“. Eine andere Möglichkeit wäre die einer „geschlossenen Gesellschaft“. Um zu überleben, erscheint es vielen Minderheiten fast notwendig zu sein, sich in der eigenen Welt zu verschanzen und auf Überwinterung zu hoffen. Demgegenüber möchte ich Sie alle ermutigen, darauf zu vertrauen, dass Gott uns nicht unbeabsichtigt in die besondere Situation Mitteldeutschlands und unserer Kirche gestellt hat. Nein, das ist kein Zufall oder blindes Schicksal; Gott wird sich schon etwas dabei gedacht haben. Wäre es es dann nicht angemessen, auf diese Herausforderung gläubig und konstruktiv einzugehen?
Wie aber könnte das für uns aussehen? „Ich bin“ – sagt Jesus Christus von sich selbst – „dazu gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Lk 4, 18-19). Christus will also von allem befreien, was das Leben schwer macht. In ihm kommt uns Menschen Gottes bedingungslose Liebe entgegen. In seiner Nachfolge ist auch die Kirche – wie es das II. Vatikanische Konzil ausdrückt – als „Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes“ zu verstehen. Selbstverständlich ist es letztlich Gott, der die Kirche hervorgerufen hat und mit uns auf dem Weg ist. Als deren Gliedern ist uns allen aber ein Schatz anvertraut, den wir mit anderen teilen sollen: Hoffnung und Zuversicht zu vermitteln. Konkret heißt das, weniger um uns selbst besorgt zu sein, als uns denen zuzuwenden, die in unserer Umgebung und darüber hinaus materiell oder geistig arm sind, leiblich oder seelisch gefangen, blind oder zerschlagen.
Gewiss, manches erscheint uns armselig. Doch das Evangelium kann seine Sprengkraft überall erweisen. Scheuen wir uns deshalb nicht, die Zumutungen unserer Situation als Herausforderung Gottes anzunehmen. Das kann ungeahnte Kräfte freisetzen. In unseren Zukunftsbildern – vor fünf Jahren formuliert – heißt es darum auch: „Wir sind Gottes Zeugen hier und heute. Als schöpferische Minderheit setzen wir in ökumenischem Geist seinen Auftrag um: in unseren Pfarreien, in Gemeinden, Gemeinschaften und Einrichtungen, in Kooperationen mit Partnern in der Gesellschaft.“ Fragen wir uns deshalb immer wieder: Was stärkt uns als Getaufte und Gefirmte? Und was brauchen die Menschen, unter denen wir leben? Wie können wir vor Ort das Wort Gottes hören, miteinander beten und lebensnah Eucharistie feiern? Und welche Zeichen sollten wir zusammen mit anderen in unserer Gesellschaft setzen?
Ja – liebe Schwestern und Brüder – unsere Rahmenbedingungen sind nicht unbedingt leicht. Da kann ich nur staunen, wie begnadet und kreativ dennoch auch eine „kleine Herde“ von gläubigen Christen sein kann. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir auch weiterhin Möglichkeiten finden, lebendig Kirche zu sein. Zugleich bin ich dankbar, dass so viele bereit sind, sich auf Neues einzulassen. Mögen wir alle auch weiterhin aus unserem Glauben Kraft schöpfen und anregende wie ermutigende Zeugen des Evangeliums sein. Gefragt ist dabei jene frohe Grundstimmung, die der Apostel Paulus zu den Früchten des Heiligen Geistes zählt. Beten wir auch immer wieder für unser Bistum und die Menschen, mit denen wir zusammenleben, um geistliche Aufbrüche und Berufungen sowie um die Erkenntnis, dass wir alle Kirche sind und es auf jede und jeden von uns ankommt.
In herzlicher Verbundenheit erbitte ich Ihnen dazu den Segen des allmächtigen und barmherzigen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Magdeburg, am 1. Sonntag der österlichen Bußzeit 2019
Ihr Bischof
+ Gerhard Feige
Der Fastenhirtenbrief zum Download